fabrikzeitung

Donnerstag, 10. Januar 2008

Kultur ist, wie wir leben

Hannes Grassegger, Zürich

Vor einem Jahr wurde die Jägergasse geschlossen; vor einem Jahr wurde Sihlcity eröffnet. Alle Vermarktung hin oder her – Jeder weiss: Kulturbesetzungen gehen. Und kommen wieder. Mit der Langstrassenkultur aber ist bald Schluss.

Kultur zu Geld machen muss nicht unbedingt schlimm sein. Es klappt bloss meist nicht. Oder ist total unnötig. Der Versuch, die Sihlpapierzeit, eine vorübergehende «Kulturbesetzung» eines alten Fabrikgeländes, mit ihren Konzerten, Partys und Ausstellungen in einen Standortvorteil für das später dort errichtete Büro- und Shoppingcenter Sihlcity, umzuwandeln und die Kultur zu kapitalisieren hat sich als unnötig erwiesen. Weder DJ Tatana noch Burger King brauchen Squatappeal. Sihlcity ist eine stinknormale Gewerbegegend auf der grünen Wiese, hier will niemand Kultur als Ersatz für nichtvorhandenes Geld.
Im Fall des Jägergasse Squats liess sich das für die Eigentümerin der Liegenschaft arbeitende Werbebüro von der Besetzung „inspirieren“. Man drehte Werbespots im Demo-Stil und nutzte die unverhoffte Publicity um den hässlichen Betonklotz mit Werbeplakaten zu behängen. Das kann man klasse kreativ finden. Ist aber auch belanglos. Kultur und Cash? Egal was es brachte, nichts ging verloren. Genau deswegen ist ein anderer Vorgang in Zürich interessanter:

Die Gentrification* der Langstrasse

Sexshops, Drugdealers and Rock’n’Roll-Bars - die Zürcher Langstrasse ist (zusammen mit der Genfer Paquisgegend) der bunteste Ort der Schweiz ist. Es gibt genügend Volk von überall her um die Strassen zu beleben, Künstler und Studenten, welche die Bars und Galerien füttern, aber auch ausreichend Junkies, um die ängstlichen Langweiler fern zu halten, die einem mit ihren pikierten Gesichtern das Leben schwer machen würden. Die Essenz der Langstrassenkultur aber sind die Menschen, die in der Gegend leben und arbeiten. Diese Leute schaffen Freiheit. Das haben eine ganze Menge Ausländer und nicht ganz so viele Schweizer sich so eingerichtet. Die afrikanischen Dealer, welche die Drecksarbeit des Stoffverkaufs übernehmen, die tanzenden Latinos, die nachts gern streiten und die Kunstszenis des «Perla Mode», die versuchen, irgendetwas zwischen Karriere und Party zu konstruieren. «Kulturelles Kapital» ist ein Interpretationsmuster und steckt in Leuten. Wenn die gehen, geht auch die Kultur. Wie das ohne aussieht, sieht man am Rest der Schweiz – auch darum retten sich viele unkonventionelle Köpfe nach Zürich.

Wir bauen eine neue Stadt

Allmählich kippt das Gemisch. Die Dichte an sauberen Etablissements nimmt zu. Casablanca Café, Longstreet Bar, Club Zukunft, Die alte Metzgerei, Hotel Rothaus – man kann Tag und Nacht an der Langstrasse verbringen, ohne mit den An- und Bewohnern etwas zu tun zu haben. Die Initianten und Betreiber dieser neuen Welle sind meist lokale Subkulturvermarkter die ihre Erfahrung und Reputation im Potenzial der Langstrasse versilbern wollen. 2008 wird Barbetreiber und „Lebemann“ Yves Spink (Longstreet, Talacker Bar) das grosse Restaurant im Volkshaus übernehmen, und zusammen mit der ersten Shopping Mall im Quartier («Das Haus» featuring DJ Spruzzi, Laurence Desarzens, Hunkeler Brüder) ist dann auch Potential zur Bedienung grösserer Massen vorhanden. Aller Schmutz muss daher raus.

Erfolgreich waren in diesem Zusammenhang auch die Anwohner-Initiativen, der Stadt und der Gewerbetreibenden. Aus dem ehemaligen Junkieloch Bäckeranlage wurde ein Kinderspielplatz und die Verkehrsberuhigung der Langstrasse ist im Stadtparlament abgesegnet. Ideen zum Bau des unterirdischen Parkhauses am Helvetiaplatz kursieren. Wer einmal in Berlin, London oder im Seefeld gelebt hat, weiss was kommt: Sie werden uns mit ihren Kinderwagen überrollen. «Reverse Sensitivity» nennt man das Phänomen der abnehmenden Lärm und Schmutztoleranz in Quartieren, in denen sich junge Familien gründen und solide Mieter mit Fulltime-Jobs zuwandern. Einst kam man zwar wegen der Freiheit, aber bald ist es genug.

Wie lang noch Langstrasse?

Ökonomisch gesehen ist das recht einfach. Laut einer Studie von März 2006 halten die Hauseigentümer mit den Sanierungen noch zurück. In der Regel zögern breitgestreute Besitzverhältnisse eine konzertierte Sanierungswelle hinaus. Die Erwartung steigender Renditen durch zahlungskräftigere Mieter verhindert zudem einen Ausverkauf der Gegend. Zur Sanierung (63 Prozent Altbauten, erbaut vor 1914) müssen viele «kleine» Hausbesitzer erst einmal das Kapital für einen Umbau organisieren. Das wiederum hängt von der Einschätzung der Banken ab, die beurteilen ob sich Kredite in dieser Ecke lohnen.

Alle blicken daher auf die Langstrasse und ihre Geschäfte. Zielpublikum ist die breitere Masse, Mittel dazu eine Erweiterung des Angebots. Dies zeigen nicht nur die Werbeposter des Vereins Langstrassenmarketing, sondern auch die Bereitstellung eines städtischen Kredittopfes von zwei Millionen Franken für Gewerbegründer mit passenden Ideen. Raus mit den Puffs, her mit den Boutiquen. «Das Haus», wird als Barometer dienen, an dem Investoren messen können, ab wann es sich lohnt, konventionell im Quartier zu investieren. Das Jahr 2008 wird wegen der Fussball-EM eine Ausnahmesituation darstellen. Geld wird in Strömen fliessen, auch in die Puffs. 2009/2010 wird investiert, geplant und gebaut. Zürich ist nicht Berlin, Prozesse dauern. Ab 2012 ist Seefeld im Kreis 4.

Viele werden von der „Aufwertung“, der Verwertung der Kultur profitieren. Wem würde man das nicht gönnen? Aber: wer kein Geld hat muss gehen. Mit den Menschen geht auch die Kultur. Jeder, der denkt als Freerider davon zehren zu können, soll wissen: Strassenkultur kann man nicht verkaufen. Kultur ist wie wir leben. Wenn wir gehen, nehmen wir sie mit.
---
* Der Begriff Gentrification stammt von Engl. Gentry (Adel) und wurde in den sechziger Jahren geprägt um dem Vorgang der (meist innerstädtischen) Verdrängung bestimmter Einwohnergruppen durch wohlhabendere Zuzügler zu bezeichnen.

Sonntag, 19. August 2007

vox populi-vox dei

Misr 2006

«Wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen, Vernünftiges aus Vernunftlosem, Logik aus Unlogik, Leben für andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrtümern?»*

von Hannes Grassegger

Die Utopie zeigt, wie das «Gute Leben» für alle genau aussieht. Ihre Form reicht vom statischen Modell einer Elite bis zur offenen Diskussion. Vom Formationstanz zu Hofe über den Walzer zum Individualtänzer mit Neigung zur Polonaise. 1516 wurde die Utopie erfunden. Die Alte Welt wurde von oben regiert, einige wenige bestimmten das Schicksal vieler. Amerika war soeben entdeckt, und in Europa begann man zu fragen, ob dort «eine bessere Welt» möglich sei. Das Konzept gottgegebener Ordnung wurde schon etwas länger hinterfragt, nun bot sich Raum für politische Visionen. Ein Kontinent mit unbekannten Grenzen. Die Neue Welt. Als in diesem Jahr der erfolgreiche englische Jurist und Staatsmann Thomas More den fiktiven Reisebericht «Utopia - Von der besten Verfassung einer Republik und der neuen Insel Utopia» schrieb, traf er den Zeitgeist und gab der Utopie ihren Namen. Besser gesagt zwei, denn er setzte das Wortspiel Utopia aus griechisch «topos» (Ort) und den Vorsilben «ou» (nicht-) oder «eu» (gut-)zusammen. Utopia - Unort oder Gutort?

Zu Beginn des Buches diskutiert More mit dem weit gereisten Seemann Raphael, der angibt mit Amerikas Namensgeber Amerigo Vespucci gereist zu sein und daraufhin fünf Jahre auf der Insel der Utopier verbracht zu haben. Bald wird klar: Die politischen Fragen sind bis heute dieselben. Im zweiten Teil berichtet Hythloday vom Staatswesen Utopias. Eine vollkommen organisierte, in innerer Harmonie lebende Kommune, die unter anderem einen Wohlfahrtsstaat betreibt, Eigentum kollektiv verwaltet, Nachbarländer kolonisiert, Glaubensfreiheit praktiziert und Atheisten als Unmenschen betrachtet.
More zeichnet den Idealtypus einer zum Wohle der Gemeinschaft geplanten Gesellschaft. Richtig ist, was der Gemeinschaft nützt, individuelle Bereicherung oder Differenzierung sind unmöglich. Utopia ist ein erstarrtes Kollektivwesen, Individualität und Entwicklung fehlen völlig. Der Autor fällt kein endgültiges Urteil, doch nennt er seinen Seefahrer «Gott heilt» (Raphael) zum Vornamen und «Verbreiter von Unsinn» (Hythloday) zum Nachnamen. Ambivalenz ist der rote Faden, in Utopia finden sich Gegensätze überall: More provoziert die Diskussion.

Die Zeiten waren schlecht für diskutierende Freigeister. 1535 wurde der strenggläubige Katholik Morus (lateinifiziert für More) geköpft, später umso heftiger diskutiert. Kommunisten wie Liberale, Religiöse und Atheisten beziehen sich auf Utopia. 1935, zur Hochzeit europäischen Faschismus wurde Morus gar heilig gesprochen, und ist der einzige katholische Heilige dessen Statue im Kreml steht.

Frühe Utopien

Rollende Köpfe und Gesellschaftsbilder gehörten schon jeher zusammen; die Vorbilder der utopischen Sozialtechnik waren blutig. Morus bezieht sich auf Platos «Staatsmann». In der griechischen Antike zeigte dieser den Philosoph als Künstler, der den optimalen Staat auf eine Leinwand malt. "Sie werden als ihre Leinwand den Staat und die Charaktere der Menschen nehmen, und sie werden zu allererst ihre Leinwand reinwaschen - und das ist keineswegs eine leichte Aufgabe…Sie werden mit ihrer Arbeit nicht eher beginnen, noch werden sie Gesetze entwerfen, bevor sie nicht entweder eine reine Leinwand erhalten oder sie selber gereinigt haben." Plato erläutert, dass die Bewohner eines nicht perfekten Staates deportiert, von Philosophen umerzogen und bei Widerstand getötet werden müssten, bevor sie bereit wären für das gute Leben. Der Philosoph entwirft den Staat, das Volk folgt. Keine Diskussion - zum Dienste der besseren Welt.


Für Platons Schüler Aristoteles war Zivilisation untrennbar mit Aufgabenteilung verbunden. Hierarchische Führung schien notwendiges Element der Gesellschaft, Gleichheit unmöglich - ausser man hebe die Zivilisation auf. Diese zwei Möglichkeiten sahen auch spätere Utopisten, die sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert speziell mit der Gleichheitsfrage befassten: Mehr Gleichheit in Armut oder mehr Reichtum in Ungleichheit. Morus Nachfolger entwarfen entweder Wege weg von der Zivilisation, zurück zur Gleichheit, oder Technokratien mit effektiverer Verwendung der gesellschaftlichen Ressourcen durch bessere Planung der Gesellschaft. Aus Unordnung konnte für die meisten Frühsozialisten keine Ordnung entstehen.
Zunehmende soziale Unterschiede durch Produktivitätsgewinne der Industrialisierung liessen die Forderung nach einer besseren Welt für alle entstehen. Robert Owen, Henri de Saint-Simon oder Charles Fourier entwarfen revolutionäre kollektivistische Utopien und thematisierten Gleichberechtigung, freie Liebe, Leistungslöhne oder Gewerkschaftsbildung. Sie konstruierten äusserst genaue und oft bizarre Modelle einer zukünftigen Gemeinschaft. Regelwerke wurden ersonnen, Modellfabriken gebaut; es sollte den Menschen wie Schuppen von den Augen fallen, dass die Utopie erreichbar war, gute Welt, nicht Unort. In Fouriers Utopia wurden gar die Meere mit Limonade gefüllt. Auch wenn die Verschiedenheit menschlicher Wünsche allmählich beachtet wurde - noch war die Utopie exakt umzusetzendes Endziel.

Paradise

Marx und die Masse

All diese Konzepte verurteilte der Ökonom Karl Marx als «utopischen Sozialismus», welcher sich darauf konzentriere, Eliten zu überzeugen. Wer an Marx’ «Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus» zweifelte, musste irren, da gab es keine Diskussion. Den Frühsozialisten Lasalle nannte er in einem Brief an Engels dafür «jiddischen Nigger».
Marx konzentrierte sich auf die von ihm in Briefen als «Arbeiterpack» bezeichneten Proletarier und erkannte den Wunsch der Masse als Fundament der Gesellschaft. Materialistisches Streben nach Freiheit und Gleichheit galt ihm als geschichtliche Kraft. Seine Welt steuerte daher auf die Überwindung des von ihm als produktiv gelobten, aber vergänglichen Kapitalismus zu. Marxismus beruht auf Kollektivismus. Nicht das chaotische Zusammenspiel individueller Interessen wie in der Marktwirtschaft, sondern die rational geplante Gemeinschaft sei die überlegene Gesellschaftsform. Privates Eigentum war dem hinderlich.
Marx war Antiutopist. Er folgte Hegel, für den utopische Konstrukte nur Wirklichkeiten zerstören, aber keine bessere Welt schaffen konnten. Überzeugungsarbeit sei sinnlos - Vernunft und Wirklichkeit müssten gemeinsam wirken. «Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.» Im Gegensatz zu den «Utopischen Sozialisten» erkannte Marx «Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird].» Der zukünftigen Gesellschaft gab Marx keinen einheitlichen Namen. Der Begriff Sozialismus erscheint im «Kapital» nicht. Auch Rezepte für die Zukunftsgesellschaft wollte Marx nicht entwickeln. Die Gesellschaftsform müsse eine «freie Gesellschaft freier Menschen sein.» Niemand könne deren Form bestimmen.

Liberalismus – Gesellschaft auf freier Basis
Eine «freie Gesellschaft freier Menschen» war Ausgangspunkt des klassischen Liberalismus (ca. 1770-1850). Nur freie Individuen könnten die Grundlage eines stabilen Staates sein, wie John Locke erklärte. Für Liberale galt Freiheit sogar als Grundlage des Wohlstands. Mit Kant dachte man, dass jeder Plan natürlicher Gesetzmässigkeit nur unterlegen sein könne.

Das liberale Rationalitätskonzept lief konträr zum Marxismus. Statt eines diffusen «Wohles der Gesellschaft», dem sich der Einzelne zu unterwerfen habe, predigte man Individualismus. Nur der Einzelne wisse, was für ihn am besten sei, individuell rational sei die egoistische Verfolgung eigener Ziele. Liberale waren gegen Machtkonzentration, Traditionalismus und Konservatismus. Der Staat, das Kollektiv, habe sich rauszuhalten, damit der Einzelne «nach Glück streben» könne. Lediglich Besitz und Rechte des Individuums seien zu schützen, doch die Versorgung desselben gehört nicht in die Zuständigkeit des Staats. John Rawls schreibt: «The state has no right to determine a particular conception of the good life.» Radikale Liberale tendieren auch heute zu Minarchismus oder Anarchismus.

Liberale System benötigen Selbstbestimmung, Eigentum am eigenen Körper, Privatbesitz (also Marktwirtschaft und Unternehmertum), Meinungs- und Religionsfreiheit, Herrschaft allgemeiner Gesetze und den freien Austausch von Ideen.
Der schottische Moralphilosoph Adam Smith schuf eine Theorie in der Egoismus Bedingung des Wohlstandes war und vereinte so Gegensätze. Märkte regulierten sich über freibewegliche Preise von alleine. Werde etwas benötigt, steige der Preis - steige der Preis, lohne es sich den Bedarf zu stillen – Schwupps, seien alle versorgt. Jeder planvolle Eingriff wäre hinderlich. Nicht Ordnung sondern die «Harmonie» atomistischer Marktteilnehmer. Ungleichheit sei der Preis für die Freiheit des einzelnen und den Wohlstand der Meisten.
Mitte des 19. Jahrhunderts vereinte John Stuart Mall Liberalismus und sozialistischen Utopismus. Er forderte vom Staat Verlierern des Marktsystems zu helfen. Früh zeigte sich, dass Liberalismus statt endgültiger Wahrheiten oder geschichtlicher Gesetzmässigkeiten eine beständige Diskussion forderte.

Solange die Allgemeinheit aber Endlösungen wünscht, ist Zerstrittenheit im Wettbewerb politischer Systeme ein Nachteil. 1949, als Liberalismus gerne als Religion des kriegstreiberischen Kapitalismus beschimpft wurde, verlangte Friedrich Hayek an der Universität Chicago den Entwurf einer liberalen Utopie. Die Richtung gab der Autor des totalitarismuskritischen «True Road to Serfdom» vor: «Human action, not human design». Ein minimaler Staat, der die Kräfte der gesellschaftlichen Selbstorganisation auf zurückhaltende Art schützen solle. Marktwirtschaft als Fundament der Freiheit. Freiheit als Grundlage von Wohlstand. Stopp der «kollektivistischen» Umverteilung und dem Wohlfahrtsstaat. Spontane Ordnung statt 5-Jahres Plan. In Zürich kämpft zur Zeit Prof. Bruno Frey für seine Utopie der Abschaffung des Staatsmonopoles auf Bürgerschaft. Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland. Das ist Liberalismus.

Totalitarismus - Wie etwas aus seinem Gegensatz entstehen kann zeigt sich bei der Utopie.

Für den einen ein Traum, für andere ein Alptraum. So auch mit der Utopie. Im Lauf der Utopiegeschichte gerät das Bild der Zukunft zunehmend zur Dystopie. Die gute Welt zu beschreiben, scheint schwieriger als zu benennen, was nicht gut ist. Wie das Konzept der schönen neuen Welt in den Totalitarismus führt, leuchtet seit dem Zweiten Weltkrieg ein. 1942 zerlegte Karl Popper in «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» die «utopische Sozialtechnik». Die Definition eines endgültigen politischen Zieles, eines idealen Staates, einer Utopie, vernachlässige den Wissensgewinn durch den Fortschritt, ja Veränderung schlechthin. Neue, bessere Konzepte könnten ständig entstehen. Entweder müsse man diese also totalitär unterdrücken, oder politisches Handeln stets aufschieben. Es gilt prozesshaft zu denken, um dem Totalitarismus zu entgehen. Die Endlösung ist die Basis des Totalitarismus. Die Forderung nach Endgültigkeit wirft die Frage deren Form auf. Kollidieren Interessen unter ungünstigen Umständen, löst die Forderung nach einer Lösung Kampf aus.

Das Paradigma des Verteilungskampfes ist das Fundament totalitärer Systeme

Es ist eine bäuerliche Vorstellung, dass der Reichtum des einen aus der Armut des anderen resultiere. Als Nullsummenspiel bezeichnet man die Erkenntnis, dass wenn der Lehensherr Teile der begrenzten Ernte per Steuer kassiert, der Bauer um ebensoviel ärmer ist als der Herr nachher reicher. Afrika ist arm, weil wir reich sind. Soll das Eigentum von der Gemeinschaft verteilt werden? Utopien bieten oft ökonomische Lösungen. Die Frage ob Kommunismus oder Privatbesitz, stellt Morus an das Ende der Diskussion mit Raphael Hythloday. Dieser argumentiert gegen das Privateigentum, Morus dafür: «Wie soll denn die Menge der Güter ausreichen, wenn jeder im Vertrauen auf den Fleiss anderer faul wird?» Kurz vorher konstatiert Raphael: «Es ist ausgeschlossen, dass alle Verhältnisse gut sind, solange nicht alle Menschen gut sind.» Soll man die Menschen wie Platon vorschlug, zum «Guten» erziehen, die Leinwand reinigen? Hegel bemerkte, dass Platon irrte. Es gäbe «keinen archimedischen Punkt ausserhalb der Leinwand», der Maler sei Teil des Gemäldes. Wer die Leinwand reinigen wolle, müsse sich selbst entfernen. Eine neue Welt einzuführen sei unmöglich und könne nur Wirklichkeiten zerstören.
Solidarisch und eigennützig. Menschliche Gegensätze als Grundproblem der Gesellschaftsbildung. Wie, fragte sich Adam Smith, könnten «schlechte» Menschen eine gute Welt schaffen?

Freiheit ist Bedingung
In einem System freier Preise entsteht, solange frei gehandelt wird, für beide Seiten ein Gewinn. Der Bauer schiebt Kartoffeln nur über den Tisch, wenn er Profit macht. Der Kunde kauft, wenn es sich für ihn lohnt. Eine «Win-Win-Situation». Nach dem Handel ist durch «effiziente Allokation» in Werten gesehen mehr da als vorher. Fertig Verteilungskampf. Wohlfahrt als Effekt des Eigeninteresses.
Smith konstruierte den Worst-Case. Dass Menschen nicht nur egoistisch sind, sehen Ökonomen langsam ein. Man spricht von Ungleichheitsaversion, freiwilligen sozialen Beiträgen etc.
Andere deuten auf die im Internet existierenden Filesharing Communities. Hier zeige sich wie gut der Mensch sei, lasse man ihn zwanglos schalten und Daten verwalten.

Web 2.0
Die Utopie lebt immer in der Neuen Welt. Platz bietet der grenzenlose Cyberspace. Der Informatiker Max Zeumer schreibt: «Das Web 2.0 ist eine Utopie: Die Erweiterung des WorldWideWeb um die Möglichkeit, dass der User selbst Informationen beisteuert.» Die erfolgreichen «Web 2.0» Projekte wie Myspace und Youtube stehen für einen neuen Typus der Architektur einer Utopie. Anstelle den kompletten Plan eines Weblexikons (oder einer Gesellschaftsform) vorzulegen, wird eine grobe Idee publiziert und zusammen mit der Plattform einfache, billige Teilnahme angeboten. Der allgemeine Nutzen entwickelt sich aus dem Nutzen für das Individuum. Die Kraft beruht in der Vagheit der Ziele, in Diskussionsfähigkeit und Entwicklungsmöglichkeit. Ob das Projekt wächst, wohin es sich entwickelt hängt nur von einem ab: dem Willen der Teilnehmer. Das ist der Praxistest dem sich jede Utopie stellen sollte. Der Wirtschaftsprozess soll sich an den Bedürfnissen der Produzenten entwickeln. *** Starre Utopien zerbrechen. Die neue Utopie wird gemeinschaftlich errichtet und entsteht prozesshaft. Volkes Stimme statt genialer Eliten. Spontane Ordnung statt genialem Plan.

Kollektive Intelligenz
Der elitäre Genius Sir Francis Galton wollte 1906 bei einem Ochsen-Gewicht-Schätzwettbewerb die Dummheit der Masse beweisen. Er berechnete den Mittelwert der abgegebenen Stimmen und sah, dass die Masse genauer geschätzt hatte als jede Einzelperson. Seine Erkenntnis nannte er Vox populi - Volkes Stimme. Heute spricht man von Kollektiver Intelligenz. «KI ist ein emergentes Phänomen. Kommunikation innerhalb einer sozialen Gemeinschaft schafft intelligente Verhaltensweisen des «Superorganismus»**, das heisst aller Individuen.» Ergo: Sogar Ameisen sind schlau, solange sie sich selbst organisieren. Bedingungen dazu seien: Meinungsfreiheit. Dezentralisation (Spezialisierung), Informationsunterschiede (ermöglichen individuelle Interpretationen eines Sachverhaltes) Aggregation (Mechanismen, um aus Einzelmeinungen eine Gruppenmeinung zu bilden).

Der Utopieforscher Richard Saage schreibt, dass sich «alle Utopisten einig waren in der Prämisse, dass die Welt, wie sie ist, in ihrer blossen Faktizität nicht fortgeschrieben werden darf». Dem entspricht die gemeinsame Überzeugung, dass die Zukunft prinzipiell offen ist. Die Menschen müssen also selber entscheiden, was sie unter einem «guten Leben» verstehen und wie sie es erreichen wollen. Vorbei, dass Eliten neue Welten planen. Was schlecht ist, wissen wir, es gilt die «schrittweise Verbesserung realer Umstände» (Popper) zu optimieren und die im Netz gefundenen Strategien zu nutzen. Mit Hilfe des Internet sind wir in der Lage, diese Aggregation zur Gesellschaft voranzutreiben. Eine Gemeinschaft aus spezialisierten Einzelnen mit freier Meinung. Nötig sind Meinungsfreiheit, Vielfalt, Diskussion und eine Plattform.

Das Wissen der Möglichkeit einer besseren Welt heisst Eutopia. Eine Rekonstruktion der Gesellschaft als Ganzes ist unmöglich, denn Utopia ist ein Unort. Morus Utopie der Diskussion um Utopia wurde wahr. Youtopia wird gemeinsam geschrieben und ewig diskutiert. Wie Nietzsche Widersprüche als Ausprägungen derselben Sache begreift, handelt es sich beim Grundproblem der Gesellschaftsbildung, bei Solidarität und Eigennutz auch nur um verschiedene Ausprägungen der gleichen Substanz. Vox populi vox dei. Das ist Utopia.

* Nietzsche
** Wikipedia Eintrag 17.8.2007
*** An dieser Stelle möchte ich mich für eine Korrektur seitens Alfred Schaub bedanken. Der vorangegangene Satz war fälschlicherweise als Marx Zitat gekennzeichnet.

Donnerstag, 17. Mai 2007

Unter den Pflastersteinen die Glasfaserkabel

Feindbilder als Thema einer ganzen Magazinausgabe der Fabrikzeitung?
Hier mein Beitrag für die Hippies am Zürisee.

er und ich

Hannes Grassegger


Schön und wahr: es gibt Fortschritt. Deutlich zu erkennen an der schlechten Verfassung kollektiver Feindbilder in der Jugendkultur.

Diese, da ist man sich in der Sozialpsychologie einig,
haben seit jeher vor allem eine Funktion:
Differenzierung der Eigengruppe von der Fremdgruppe.
Durch die Zuschreibung negativer Eigenschaften auf
eine Gruppe von Gegnern entstehe Geschlossenheit in
der eigenen Fraktion, Identität werde in dem Masse
geschaffen wie man sich einig einig sei über das
„Bild vom Feind“. Feind sei wer kein soziales Gefühl
verdiene. Vor allem in Zeiten der Angst, so sagt die
Forschung, würden Feindbilder gemalt.
Deren letzte grosse Blüte fand sich hierzulande wohl
in den so genannten bewegten Achtzigern, einer kleinen
Revolution, die an den Tresen dieser Stadt verebbte.
Auch wenn man in manch lokaler Beiz anderes erzählt
bekommt, es müssen angsteinflössende Zeiten gewesen
sein, die soviel Einheit schufen. Erzählungen zufolge
waren es Typen wie Michael Endes böse Kapitalisten die
in ihren grauen Anzügen, Zeit in Zigarren rauchend all
die kleinen Momokinder bedrohten. Diese gefühllosen
Imperialisten aus der Elterngeneration hatten bereits
den zweiten Weltkrieg geführt und riskierten dann den
Atomkrieg. Die Endzeit stand kurz bevor, Pink Floyd
sangen „Us and Them“, die Jugend schloss sich zusammen
und überlegte kollektiv wie man etwas ändern könnte.
Das Feindbild war klar; „soziales Denken“ der Hit, die
Gemeinschaft Basis der Überlegungen. Sogar die fünfzig
Fundis der Roten Armee Fraktion in Deutschland
bezeichneten sich zur Zeit der Schleyer Entführung als
„Volksarmee“.

Richtig los mit dem Zürcher Widerstand ging es mit dem
Kick durch Punk; wer sich für Details und Stylingtipps
der Achtziger Bewegung interessiert soll sich das
offizielle Fanvideo im RecRec kaufen und im "Ziegel"
einen darauf heben gehen. Nebenan kann man die Kinder
grossziehen lassen und sich am Ende im Friedhof
Sihlfeld zur Ruhe betten.
In Zürich wird man gemeinsam alt. Wie gut alternative
Kultur hier konserviert wurde erinnert an einen Besuch
Pompejis: Es ist faszinierend zu betrachten und
manchmal beängstigend zu erleben.

Wer vor kurzem in der roten Fabrik den „kritischen“
Dokumentarfilm The Big Sellout sah, weiss was gemeint
ist. Wurde im Film das Hauptquartier der Weltbank
gezeigt, kamen bedrohliche Klänge aus den Boxen,
Indianerinnen gaben zutiefst erdverbundene Weisheiten
von sich und Schuld an allem gezeigten Leiden war die
Privatisierung. So werden Feindbilder reproduziert.
Hier muss immer noch Krieg herrschen, Indianer gegen
Kapitalisten, der erste Tote ist der Erkenntnisgewinn,
gefallen für die Einheit der Bewegung.
Vielleicht gibt es doch ein anderes
Konzept als den einen Plan der besseren Welt.

Es sei das „Zeitalter der Vergleichung“, eine
„Polyphonie der Bestrebungen“ und „ein solches
Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm
die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Kulturen
verglichen und nebeneinander durchlebt werden können.“
meint 1878 Nietzsche. 1978 fliegen Steine, 2007 sitzen
die Bewegten im Kino und pflegen gemeinsam das
Feindbild.

Statt sich mit ihren Eltern über Politik zu streiten,
tunen die Kinder der Bewegten am Rechner ganz
individuell (und so furchtbar vereinsamt) ihre
Identität bei Myspace. Auf der kostenlosen instant
Homepage präsentieren sich Millionen Menschen aus
aller Welt. Die Nutzer gestalten ihren eigenen
Auftritt dabei als Performance mit Fotos, Text, Videos
und Musikclips. Myspace ist ein gigantischer Show off,
ein Walk of Fame im Netz geworden, bei dem sich jeder
von seiner selbsterschaffenen besten Seite zeigen
kann. Hier kann man den Traum seiner selbst
manifestieren. Gemeinschaft entsteht über Interessen
und Stil, die Internationale Völkerfreundschaft ganz
ohne einigenden Feind. Ziel ist es mit anderen in
Kontakt zu treten oder sie zu einem repräsentativen
eigenen Freundeskreis zu gesellen. In allen bunten
Hippiefarben kreiert die Myspace Ära Freundbilder
statt Feindbilder.
Das Netz zeigt sich immer mehr als ein Potential auf
Gemeinschaften in dem Gruppen oftmals ad hoc entstehen
und vergehen. Über Plattformen wie Youtube lässt sich
nun der hinterste Winkel der Welt bestaunen, in
Wikipedia von Togo aus Unsinn in Lexika einfügen und
über Net PD weltweit synchron musizieren. Diese
Vielfalt aber ist die Frucht unverhohlenen
Individualismus.
Die obengenannten erfolgreichen „Web 2.0“ Projekte
stehen für einen neuen Typus der Architektur einer
Vision. Erfolgreich wird der Konflikt zwischen
Eigeninteressen der Teilnehmer und Gesamtergebnis
aufgehoben. Anstelle beispielsweise den Plan eines
kompletten Weblexikons (oder einer Gesellschaftsform
etc.) vorzulegen und frustriert daran jeden
Zwischenstand zu messen, wird eine grobe Idee
publiziert, und zusammen mit der Plattform eine
einfache, quasi kostenfreie Teilnahmemöglichkeit
angeboten. Ob das Projekt wächst und wohin es sich
entwickelt hängt daraufhin nur noch von einem ab: ob
es wirklich von genügend Menschen gewollt wird. Und
genau das ist eben der Praxistest dem sich jede Vision
stellen sollte. Diese Konzepte aus dem Cyberspace in
die Welt zu tragen könnte in den
angsteinflössenden Zeiten von Klimaerwärmung und
Kriegstreiberei verhindern veralte Ideen
aufzuwärmen und falsche Rezepte wieder zu benutzen.
„Nur wer sich verändert, bleibt sich treu!“ höre ich
Wolf Biermann schrummeln. Wie am Lagerfeuer, bloss
digital.

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