Donnerstag, 10. Januar 2008

Kultur ist, wie wir leben

Hannes Grassegger, Zürich

Vor einem Jahr wurde die Jägergasse geschlossen; vor einem Jahr wurde Sihlcity eröffnet. Alle Vermarktung hin oder her – Jeder weiss: Kulturbesetzungen gehen. Und kommen wieder. Mit der Langstrassenkultur aber ist bald Schluss.

Kultur zu Geld machen muss nicht unbedingt schlimm sein. Es klappt bloss meist nicht. Oder ist total unnötig. Der Versuch, die Sihlpapierzeit, eine vorübergehende «Kulturbesetzung» eines alten Fabrikgeländes, mit ihren Konzerten, Partys und Ausstellungen in einen Standortvorteil für das später dort errichtete Büro- und Shoppingcenter Sihlcity, umzuwandeln und die Kultur zu kapitalisieren hat sich als unnötig erwiesen. Weder DJ Tatana noch Burger King brauchen Squatappeal. Sihlcity ist eine stinknormale Gewerbegegend auf der grünen Wiese, hier will niemand Kultur als Ersatz für nichtvorhandenes Geld.
Im Fall des Jägergasse Squats liess sich das für die Eigentümerin der Liegenschaft arbeitende Werbebüro von der Besetzung „inspirieren“. Man drehte Werbespots im Demo-Stil und nutzte die unverhoffte Publicity um den hässlichen Betonklotz mit Werbeplakaten zu behängen. Das kann man klasse kreativ finden. Ist aber auch belanglos. Kultur und Cash? Egal was es brachte, nichts ging verloren. Genau deswegen ist ein anderer Vorgang in Zürich interessanter:

Die Gentrification* der Langstrasse

Sexshops, Drugdealers and Rock’n’Roll-Bars - die Zürcher Langstrasse ist (zusammen mit der Genfer Paquisgegend) der bunteste Ort der Schweiz ist. Es gibt genügend Volk von überall her um die Strassen zu beleben, Künstler und Studenten, welche die Bars und Galerien füttern, aber auch ausreichend Junkies, um die ängstlichen Langweiler fern zu halten, die einem mit ihren pikierten Gesichtern das Leben schwer machen würden. Die Essenz der Langstrassenkultur aber sind die Menschen, die in der Gegend leben und arbeiten. Diese Leute schaffen Freiheit. Das haben eine ganze Menge Ausländer und nicht ganz so viele Schweizer sich so eingerichtet. Die afrikanischen Dealer, welche die Drecksarbeit des Stoffverkaufs übernehmen, die tanzenden Latinos, die nachts gern streiten und die Kunstszenis des «Perla Mode», die versuchen, irgendetwas zwischen Karriere und Party zu konstruieren. «Kulturelles Kapital» ist ein Interpretationsmuster und steckt in Leuten. Wenn die gehen, geht auch die Kultur. Wie das ohne aussieht, sieht man am Rest der Schweiz – auch darum retten sich viele unkonventionelle Köpfe nach Zürich.

Wir bauen eine neue Stadt

Allmählich kippt das Gemisch. Die Dichte an sauberen Etablissements nimmt zu. Casablanca Café, Longstreet Bar, Club Zukunft, Die alte Metzgerei, Hotel Rothaus – man kann Tag und Nacht an der Langstrasse verbringen, ohne mit den An- und Bewohnern etwas zu tun zu haben. Die Initianten und Betreiber dieser neuen Welle sind meist lokale Subkulturvermarkter die ihre Erfahrung und Reputation im Potenzial der Langstrasse versilbern wollen. 2008 wird Barbetreiber und „Lebemann“ Yves Spink (Longstreet, Talacker Bar) das grosse Restaurant im Volkshaus übernehmen, und zusammen mit der ersten Shopping Mall im Quartier («Das Haus» featuring DJ Spruzzi, Laurence Desarzens, Hunkeler Brüder) ist dann auch Potential zur Bedienung grösserer Massen vorhanden. Aller Schmutz muss daher raus.

Erfolgreich waren in diesem Zusammenhang auch die Anwohner-Initiativen, der Stadt und der Gewerbetreibenden. Aus dem ehemaligen Junkieloch Bäckeranlage wurde ein Kinderspielplatz und die Verkehrsberuhigung der Langstrasse ist im Stadtparlament abgesegnet. Ideen zum Bau des unterirdischen Parkhauses am Helvetiaplatz kursieren. Wer einmal in Berlin, London oder im Seefeld gelebt hat, weiss was kommt: Sie werden uns mit ihren Kinderwagen überrollen. «Reverse Sensitivity» nennt man das Phänomen der abnehmenden Lärm und Schmutztoleranz in Quartieren, in denen sich junge Familien gründen und solide Mieter mit Fulltime-Jobs zuwandern. Einst kam man zwar wegen der Freiheit, aber bald ist es genug.

Wie lang noch Langstrasse?

Ökonomisch gesehen ist das recht einfach. Laut einer Studie von März 2006 halten die Hauseigentümer mit den Sanierungen noch zurück. In der Regel zögern breitgestreute Besitzverhältnisse eine konzertierte Sanierungswelle hinaus. Die Erwartung steigender Renditen durch zahlungskräftigere Mieter verhindert zudem einen Ausverkauf der Gegend. Zur Sanierung (63 Prozent Altbauten, erbaut vor 1914) müssen viele «kleine» Hausbesitzer erst einmal das Kapital für einen Umbau organisieren. Das wiederum hängt von der Einschätzung der Banken ab, die beurteilen ob sich Kredite in dieser Ecke lohnen.

Alle blicken daher auf die Langstrasse und ihre Geschäfte. Zielpublikum ist die breitere Masse, Mittel dazu eine Erweiterung des Angebots. Dies zeigen nicht nur die Werbeposter des Vereins Langstrassenmarketing, sondern auch die Bereitstellung eines städtischen Kredittopfes von zwei Millionen Franken für Gewerbegründer mit passenden Ideen. Raus mit den Puffs, her mit den Boutiquen. «Das Haus», wird als Barometer dienen, an dem Investoren messen können, ab wann es sich lohnt, konventionell im Quartier zu investieren. Das Jahr 2008 wird wegen der Fussball-EM eine Ausnahmesituation darstellen. Geld wird in Strömen fliessen, auch in die Puffs. 2009/2010 wird investiert, geplant und gebaut. Zürich ist nicht Berlin, Prozesse dauern. Ab 2012 ist Seefeld im Kreis 4.

Viele werden von der „Aufwertung“, der Verwertung der Kultur profitieren. Wem würde man das nicht gönnen? Aber: wer kein Geld hat muss gehen. Mit den Menschen geht auch die Kultur. Jeder, der denkt als Freerider davon zehren zu können, soll wissen: Strassenkultur kann man nicht verkaufen. Kultur ist wie wir leben. Wenn wir gehen, nehmen wir sie mit.
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* Der Begriff Gentrification stammt von Engl. Gentry (Adel) und wurde in den sechziger Jahren geprägt um dem Vorgang der (meist innerstädtischen) Verdrängung bestimmter Einwohnergruppen durch wohlhabendere Zuzügler zu bezeichnen.

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