Anonymous Ausgabe
Editorial der Januar Ausgabe der Fabrikzeitung. Ab Montag, 17.01.2011 erhältlich. International via Via Motto Distribution. In Zürich an ausgewählten Orten kostenlos.
lol
Das war so verdammt lustig als die Ballerei losging.
Als Leute wie Du und Ich die Ionenkanone LOIC zückten (gratis, hier), und mit „sinnlosen Anfragen“ die Websites zerschossen von Mastercard und Visa. Und der Schweizer Postfinance. Irgendjemand schrie: Wikileaks! Rache! Schon war ein Grund gefunden, ins virtuelle Gesicht zu ballern. Dann schwappte das Webding ins reale Leben.
Und dann wurde es bitter.
In Zeitungen und Newsportalen gab es eine Menge dazu lesen, wer dieser Irgendjemand sei, warum dieser Anonymous so und so handle (als kleiner Beleg gibt’s IRL Headlines zu Anonymous auf Seite 8). Kurz gesagt verstanden die Medien Anonymous als eine Hacker-Aktivistengruppe. Die im Falle von Julian Assange für Informationsfreiheit kämpfte.
Syntax Error.
„Anonymous unterstützt Wikileaks.“ Das wird so in die Geschichte eingehen. Weil folgender kleiner Austausch zur Frage, was Anonymous mit Wikileaks zu tun habe, auf der englischsprachigen Wikipedia Diskussionsseite stattfand (also dort wo die Verfasser der Einträge diskutieren):
Reportedly, Anonymous supports WikiLeaks: [3] [4]
I've been told that these don't count as reliable sources. However, with a group like Anonymous, no formal announcement is possible (since it has no formal leader etc.). So how much coverage do we need, exactly, to count this claim as reliable? Sonicsuns (talk) 05:58, 6 December 2010 (UTC)
Nevermind, I just found it in the New York Times: [5] Sonicsuns (talk) 06:32, 6 December 2010 (UTC)
Die NYT als Hüterin der Wahrheit?
Der Link führt zu einem Artikel von Ravi Somaiya, einem hippen Freelancer der so über alles Spannende schreibt. Beispielsweise Ölplattformen (wenn diese brennen). Somaiya begründet die Behauptung, Anonymous kämpfe für Wikileaks, mit der Aussage eines Herrn Gregg Housh, der wiederum behauptet, er hätte so was gehört.
Liebe Leser, lassen Sie es sich von uns sagen: Der These ist fundamental zu misstrauen. Wir sind auch hippe Freelancer die in grösseren Blättern schreiben. Wir kennen ein paar NYT Schreiberlinge. Die NYT ist nicht die Hüterin der Wahrheit. Gregg Housh ist ein Typ, der sich zum „Gesicht von Anonymous“ erklärt hat. Ein „moralfag“, wie seine Gegner „Ethical Hacker“ nennen. Und der obige Vorgang ist schrecklich. Illustriert er doch wie grosse Medien Willkürherrschaft ausüben können, indem sie zukünftig „dem Anonymous“ alles unterschieben können. Klar fallen alle Zeitungen mal auf Aprilscherze rein. Aber hier geht es um die Formation der Seele des Internets. Nirgendwo kann man so klar Gedanken lesen. Da sollte man sauber arbeiten.
Wer sich im Netz umsieht, wird bemerken, wie ein guter Teil aller Kommentare überhaupt von „Anonymous“ verfasst wurden.
„Anonymous gibt es gar nicht.“
lacht Gerald Himmelein vom Computermagazin c’T. Himmelein ist der Mann, der Anonymous und die lol-cats, das Phänomen der radebrachenden Katzenbilder, zusammenbringt.
Bereits 2008 beschrieb er die Szene, die „Anonymous“ hervorbrachte. So gut, dass sogar die Hasstatzen im Netz, die Trolle, über die er berichtete, seinen Text in ihre Encyclopedia Dramatica (ED), das Nachschlagewerk der Trolle (siehe Fabrikzeitung 253, 2009) einfügten. Der Text war so unersetzbar, dass die Trolls ihn mühselig ins Englische übersetzten. Um sich selber zu verstehen. Die eigene Geschichte. Die Geschichte einer Idee. Eines kulturellen Mems. Wir haben Himmelein um seinen Text gebeten und er sagte ja (Seite 5).
ED ist eine der spannendsten Seiten des Internets. Widerlich und Grossartig. Sie beschreibt die Seele einer wirklichen neuen Welt. Einer Welt, die nicht an physische Konsequenzen glaubt, die es ernst nimmt, dass hier ganz neue Regeln entstehen.
Anonymous begann als Gag - und ist das eigentlich auch geblieben. Es beginnt auf Plattformen, wo der Austausch so einfach wie möglich ist. Bulletinboards, Imageboards wie 4chan oder 888chan (RIP), die schwarzen Bretter des Internets. Jeder kann dort etwas einstellen. Gibt man keine ID ein, steht da „Anonymous“ sagt:...
Chans sind Petrischalen für grosse Ideen. Kreative Teilnehmer kamen auf die Idee, die Masse der Anonymen zu behandeln, als handele es sich um eine Einzelperson. So posteten nacheinander Einzelne die Abenteuer eines Strichmännchens. Das ganze wurde eine kohärente Story. Autor: Anonymous. Many to One. Kopflos. Der Begriff Anonymous ist eine leere Maske, die unterschiedliche Gruppen immer wieder nutzen, um ihre Aktivitäten zu organisieren -- seien es verteilte Angriffe auf Web-Server (mit Ionenkanonen!) oder Demons gegen Scientology.
„Anonymous kann heute in eine Richtung keilen und morgen in die Gegenrichtung, weil hinter dem Namen alles steht und niemand. Anonymous besitzt weder Anführer noch Gefolgsleute. Anonymous ist lediglich eine Idee, hinter der sich Leute verstecken können. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die personifizierte Maske der Anonymität.“, sagt Gerald Himmelein.
So funktioniert Anonymous: Über Meme
- Jemand 1 hat eine Idee
- Jemand 2 hat Zeit
- Jemand 1 bringt die Idee dorthin,
wo Jemand 2 gelangweilt nach Ideen stöbert
- Jemand 2 findet die Idee und findet sie interessant. Er gibt Feedback an 1 und erzählt alles weiter. Vielleicht spinnt Jemand 2 den Faden noch etwas weiter.
- Jemand 3 findet die Idee und findet sie interessant. Er gibt Feedback an 1 und erzählt alles weiter. Vielleicht spinnt Jemand 3 den Faden noch etwas weiter.
- Das ist es eigentlich schon.
Entweder es wird gross, über 9000, oder nicht.
Chans erinnern an Kanäle, in denen schön nach Thema und Interesse getrennt Infos fliessen. Die Endung /b/ steht dabei öfter für Zufallsthemen. Das sorgt dafür, dass sich hier unterschiedlichste Identitäten treffen.
Deren Ideen gehen meistens darum, etwas zu tun, was in der realen Welt schwieriger ist als OnLine: Jemandem zu schaden. Und dann göttliche Schadenfreude zu empfinden. Ohne Konsequenzen. LULZ, das Plural von Laugh out Loud. Den königlichsten Einblick in die Welt der fortgeschrittenen Schadenfreude, der Trolle und des Herrschers Weev, gibt Mattathias Schwartz (Seite 3).
Die Multitude?
Ist das nicht faszinierend, wie der Einzelne in vollendeter egoistischer Mission, zum Teil eines koordiniert erscheinenden, grossen Ganzen wird? Ist es Schwarmintelligenz? Merkmal einer Evolutionsstufe?
Bevor jetzt warme Seelen vom revolutionärem Potential der Multitude, jener von den postkommunistischen Kommunisten Hardt und Negri beschworenen Vielheit träumen, die gegen die „Biomacht“ antrete; oder Andere schaudernd an Thomas Hobbes Warnung vor der kopflosen „Multitudo“, die nicht nur den Souverän, sondern auch die Einheit des Volkes bedrohe, sagen wir lieber: Anonymous ist Tom.
„Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Anonymous ein einzelner 12-jähriger Junge ist“. So zeigt es die Encyclopedia Dramatica (Seite 3). Tom, meinen wir, benimmt sich grade wie ein trotziger Junge, der durch Mutwilligkeit versucht, Grenzen auszutesten. Und genauso benimmt sich die reale Welt aka die Gesellschaft (repräsentiert durch die Medien) mit Tom. Beide wachsen grade nebeneinander, miteinander, zusammen. Who knows.
Damit es nicht einfach unwiderlegbar gelöscht wird, im stets fliessenden Internet, drucken wir auch noch ein bisschen Interna der Schweizer Anonymous ab. Leaks aus Chatrooms (Seite 6).
Ab Montag 17.01.2011, neue Ausgabe der Fabrikzeitung. Erhältlich international via Via Motto Distribution. In Zürich an ausgewählten Orten kostenlos. Redaktion Hannes Grassegger und Glashaus.
hannes1 - 16. Jan, 21:01