Unter den Pflastersteinen die Glasfaserkabel

Feindbilder als Thema einer ganzen Magazinausgabe der Fabrikzeitung?
Hier mein Beitrag für die Hippies am Zürisee.

er und ich

Hannes Grassegger


Schön und wahr: es gibt Fortschritt. Deutlich zu erkennen an der schlechten Verfassung kollektiver Feindbilder in der Jugendkultur.

Diese, da ist man sich in der Sozialpsychologie einig,
haben seit jeher vor allem eine Funktion:
Differenzierung der Eigengruppe von der Fremdgruppe.
Durch die Zuschreibung negativer Eigenschaften auf
eine Gruppe von Gegnern entstehe Geschlossenheit in
der eigenen Fraktion, Identität werde in dem Masse
geschaffen wie man sich einig einig sei über das
„Bild vom Feind“. Feind sei wer kein soziales Gefühl
verdiene. Vor allem in Zeiten der Angst, so sagt die
Forschung, würden Feindbilder gemalt.
Deren letzte grosse Blüte fand sich hierzulande wohl
in den so genannten bewegten Achtzigern, einer kleinen
Revolution, die an den Tresen dieser Stadt verebbte.
Auch wenn man in manch lokaler Beiz anderes erzählt
bekommt, es müssen angsteinflössende Zeiten gewesen
sein, die soviel Einheit schufen. Erzählungen zufolge
waren es Typen wie Michael Endes böse Kapitalisten die
in ihren grauen Anzügen, Zeit in Zigarren rauchend all
die kleinen Momokinder bedrohten. Diese gefühllosen
Imperialisten aus der Elterngeneration hatten bereits
den zweiten Weltkrieg geführt und riskierten dann den
Atomkrieg. Die Endzeit stand kurz bevor, Pink Floyd
sangen „Us and Them“, die Jugend schloss sich zusammen
und überlegte kollektiv wie man etwas ändern könnte.
Das Feindbild war klar; „soziales Denken“ der Hit, die
Gemeinschaft Basis der Überlegungen. Sogar die fünfzig
Fundis der Roten Armee Fraktion in Deutschland
bezeichneten sich zur Zeit der Schleyer Entführung als
„Volksarmee“.

Richtig los mit dem Zürcher Widerstand ging es mit dem
Kick durch Punk; wer sich für Details und Stylingtipps
der Achtziger Bewegung interessiert soll sich das
offizielle Fanvideo im RecRec kaufen und im "Ziegel"
einen darauf heben gehen. Nebenan kann man die Kinder
grossziehen lassen und sich am Ende im Friedhof
Sihlfeld zur Ruhe betten.
In Zürich wird man gemeinsam alt. Wie gut alternative
Kultur hier konserviert wurde erinnert an einen Besuch
Pompejis: Es ist faszinierend zu betrachten und
manchmal beängstigend zu erleben.

Wer vor kurzem in der roten Fabrik den „kritischen“
Dokumentarfilm The Big Sellout sah, weiss was gemeint
ist. Wurde im Film das Hauptquartier der Weltbank
gezeigt, kamen bedrohliche Klänge aus den Boxen,
Indianerinnen gaben zutiefst erdverbundene Weisheiten
von sich und Schuld an allem gezeigten Leiden war die
Privatisierung. So werden Feindbilder reproduziert.
Hier muss immer noch Krieg herrschen, Indianer gegen
Kapitalisten, der erste Tote ist der Erkenntnisgewinn,
gefallen für die Einheit der Bewegung.
Vielleicht gibt es doch ein anderes
Konzept als den einen Plan der besseren Welt.

Es sei das „Zeitalter der Vergleichung“, eine
„Polyphonie der Bestrebungen“ und „ein solches
Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm
die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Kulturen
verglichen und nebeneinander durchlebt werden können.“
meint 1878 Nietzsche. 1978 fliegen Steine, 2007 sitzen
die Bewegten im Kino und pflegen gemeinsam das
Feindbild.

Statt sich mit ihren Eltern über Politik zu streiten,
tunen die Kinder der Bewegten am Rechner ganz
individuell (und so furchtbar vereinsamt) ihre
Identität bei Myspace. Auf der kostenlosen instant
Homepage präsentieren sich Millionen Menschen aus
aller Welt. Die Nutzer gestalten ihren eigenen
Auftritt dabei als Performance mit Fotos, Text, Videos
und Musikclips. Myspace ist ein gigantischer Show off,
ein Walk of Fame im Netz geworden, bei dem sich jeder
von seiner selbsterschaffenen besten Seite zeigen
kann. Hier kann man den Traum seiner selbst
manifestieren. Gemeinschaft entsteht über Interessen
und Stil, die Internationale Völkerfreundschaft ganz
ohne einigenden Feind. Ziel ist es mit anderen in
Kontakt zu treten oder sie zu einem repräsentativen
eigenen Freundeskreis zu gesellen. In allen bunten
Hippiefarben kreiert die Myspace Ära Freundbilder
statt Feindbilder.
Das Netz zeigt sich immer mehr als ein Potential auf
Gemeinschaften in dem Gruppen oftmals ad hoc entstehen
und vergehen. Über Plattformen wie Youtube lässt sich
nun der hinterste Winkel der Welt bestaunen, in
Wikipedia von Togo aus Unsinn in Lexika einfügen und
über Net PD weltweit synchron musizieren. Diese
Vielfalt aber ist die Frucht unverhohlenen
Individualismus.
Die obengenannten erfolgreichen „Web 2.0“ Projekte
stehen für einen neuen Typus der Architektur einer
Vision. Erfolgreich wird der Konflikt zwischen
Eigeninteressen der Teilnehmer und Gesamtergebnis
aufgehoben. Anstelle beispielsweise den Plan eines
kompletten Weblexikons (oder einer Gesellschaftsform
etc.) vorzulegen und frustriert daran jeden
Zwischenstand zu messen, wird eine grobe Idee
publiziert, und zusammen mit der Plattform eine
einfache, quasi kostenfreie Teilnahmemöglichkeit
angeboten. Ob das Projekt wächst und wohin es sich
entwickelt hängt daraufhin nur noch von einem ab: ob
es wirklich von genügend Menschen gewollt wird. Und
genau das ist eben der Praxistest dem sich jede Vision
stellen sollte. Diese Konzepte aus dem Cyberspace in
die Welt zu tragen könnte in den
angsteinflössenden Zeiten von Klimaerwärmung und
Kriegstreiberei verhindern veralte Ideen
aufzuwärmen und falsche Rezepte wieder zu benutzen.
„Nur wer sich verändert, bleibt sich treu!“ höre ich
Wolf Biermann schrummeln. Wie am Lagerfeuer, bloss
digital.

Suche

 

Aktuelle Beiträge

Mein Buch: Das Kapital...
Unsere Daten müssen uns gehören. Diese einfache Idee...
hannes1 - 11. Jul, 10:25
Gerald Loeb Award for...
Incredibly honored. Infos here.
hannes1 - 4. Jul, 16:37
Hannes Grassegger - Economist
Hannes Grassegger Photo: Felix Grisebach Twitter:...
hannes1 - 26. Jun, 20:29
3sat "Kulturzeit"
"Opa hat keine Lösung" – Meine Kritik des neuen Jaron...
hannes1 - 6. Jun, 15:15
Events 2018
Here is my schedule for 2018. I am just starting...
hannes1 - 5. Jun, 23:10
Neue Publikationen 2018
Juni: - Das Kapital bin ich. Kein & Aber Verlag....
hannes1 - 4. Mai, 15:34

RSS Box

Status

Online seit 6740 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 1. Sep, 08:36

ABOUT & CONTACT
Abstrakt
akademische mitteilungen
AlJazeera
apparel resources India
ARTE
Arts Exhibitions
Auftritte
Beobachter
brand eins
Business Punk
Campus Verlag
Capital
CNN International
Das Magazin
Die Südostschweiz
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren