Keine Geschichte

In jeder neuen Nummer des REPORTAGEN Magazins berichtet ein Autor über eine gescheiterte Reportage. Diesmal ich. N-JOY

Ich bin nun im dritten Jahr meines Journalistenlebens. Doch früher, als junger Hund, im zweiten Jahr meines Journalistenlebens, schlug ich mich auch noch mit Reportagen für das lokale Stadtmagazin durch. Gute, regelmässige Aufträge. Sie sicherten mein Überleben. Ohne sie hätte ich meine Miete nie bezahlen können. Eines Tages strich der Redaktionsleiter meine seit langem geplante Story über eine kleine Szene stockkonservativer Homosexueller, die allesamt in einer kleinen Kolonie mit gepflegten Vorgärten und Gardinen wohnten. Ich war verloren. Er wusste das.

Mit einfühlsamen Blick zog der gereifte Herr seine drei Notfall-Themen hervor. „Taxifahrer haben immer was zu erzählen.“ Es lief mir kalt den Rücken hinunter. Jungjournalist auf Taxireportage. Die klassische Prüfungsaufgabe für ein Volontariat. Das konnte nur schiefgehen. Er gab mir drei Tage. Ich hatte 35 Franken auf dem Konto. Kaum genug für zwei Taxifahrten. Spesen gab es keine. Ich war jung, brauchte das Geld, mein Herz wollte kotzen und also zog ich los. Ich wusste: interessante Taxifahrer sind Erfindungen von Filmemachern.

Am Bahnhof warteten die Taxis in einer langen Schlange. Den Fahrern war so langweilig, dass sie über die Stories der Boulevardpresse diskutierten. Ich drückte mich vorbei an unauffälligen Japanerschüsseln. Plötzlich rollte ein wunderliches himmelblaues Fahrzeug heran. Ein Amischlitten mit Historie.

Der Chauffeur hatte volle weisse Haare, war von kräftiger Statur, sein Lachen war tief, und ehrlich als ich ihn fragte, ob er Zeit für ein kleines Interview habe. Natürlich! Ich versank in einem weichen, weinroten Beifahrersitz. Stavros Gesicht war wettergegerbt, sein wacher Blick verriet zufriedene Distanz zu meiner Jugend. Der Chrysler Plymouth war mein Jahrgang, 1980. Stavros hatte schon immer amerikanische Autos als Taxis bevorzugt. Seit wann? Seit 1958. Stavros war mächtige 80 Jahre. Der dienstälteste Fahrer der Stadt. Von Hand schoben wir das Auto weiter.

„Jeden Morgen danke ich Gott, dass ich in diesem Land leben darf.“, frohlockte der gebürtige Grieche. Es sei ein langer, steiniger Weg hierhin gewesen. Eigentlich sei er Mechaniker, trainiert im schönen Thessaloniki an amerikanischen Bedford Motoren. Vielleicht sei er deswegen in jenem griechischen Bataillon gelandet, dass ab 1950 im Koreakrieg die USA unterstützte. Stavros Augen verdunkelten sich. Menschenvernichtung, für 30 Dollar und eine Schachtel Zigaretten im Monat. „Über dreissigmal krochen wir auf diesen Lehmhaufen irgendwo in Korea. Wir erkämpften den Hügel, dann kamen die Koreaner wieder. Dann wieder wir. Kameraden, Bamm, tot.“ Man konnte nichtmal die Leichen bergen. Später bombardierten die Amerikaner den Hügel. Nach 21 Monaten Krieg kam Stavros zurück., über 100 Griechen waren gestorben. Für nichts. Wir schieben das Auto weiter.

Ein Glücksfall brachte den 27-jährigen zur See. Sein Onkel war oberster Schiffsmechaniker des griechischen Milliardärs Niarchos geworden, Schwager und Erzrivale von Onassis, damals reichster Mann der Welt. 1957 kreuzte Stavros als Mechaniker auf einer Jacht über das Mittelmeer und verdiente hervorragend. Auf dem Sonnendeck träumte der Jüngling von einem Künstlerleben in Frankreich, wo Gott zuhause war. Stavros machte Überstunden, sparte. Er besuchte Nizza, traf dort halb Hollywood. An einem Frühlingsabend des Jahres 1958 sprang der Grieche in Marseille von Bord und machte sich auf nach Paris. Meine Notizen zeigen nicht mehr, warum Stavros das Existentialisten-Paradies in Richtung seiner heutigen Heimat verliess. Aber Stavros wollte Grafiker werden und die Ausbildung in der Schweiz antreten.

Als Stavros, beginnt von seiner grossen Liebe zu erzählen, sind nur noch wenige Taxis vor uns. „Ich arbeitet in einem Café in der Altstadt. Ich konnte noch kein Wort Deutsch als dieses blonde Mädchen kam.“ Stavros liebte sie auf den ersten Blick. Er rannte ihr hinterher, überredete sie mit Handzeichen zu einem Date. Der Folgetag am Milchladen war der Beginn einer langen, glücklichen Ehe. Die Sonne scheint durch die Windschutzscheibe und Stavros zeigt mit Händen und Füssen wie er sich und seine Liebe durchbrachte, ein Haus finanzierte. Drei Jobs, Taxifahrer, Mechaniker, Tankwart. „Ich hatte so eine liebe, nette Frau. 44 Jahre. Wie 44 Sekunden.“ Bis sie starb.

Stavros muss weg. Ein Auftrag zum Flughafen für mindestens 50 Franken. Ich kann nicht mithalten, notiere wie im Rausch Stavros Nummer, berichte dem Redakteur von meiner Taxistory. Der ist überglücklich. Gratuliert mir mehrfach. Betont mein Talent. Plant „super Fotos“. Ich schwebe heim, prüfe die Fakten im Netz. Der Grieche scheint nicht zu lügen. Wieso auch? Ob Stavros’ Leben ein Buch wert wäre? Ich rieche Hollywood.

Am Tag darauf rufe ich Stavros an. „Lass uns Deine Geschichte aufschreiben“, sage ich. „Lieber nicht“, sagt er, „ich habe möchte nicht, dass meine neue Freundin traurig wird, wenn sie liest, wie ich meine Frau liebte. Endaxi?“ Tuuut. Tuut. Mailbox. Mailbox. Keine Geschichte.

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