REPORTAGEN.FM
(Hier der Text des Reporter-Rundbriefes, in dem wir uns unter Kollegen unsere Lieblingsreportagen empfehlen. Kürzlich war ich dran.)
"Ich bitte um Verzeihung, dass ich drei Geschichten ausgesucht habe, die alle nicht in deutschen Zeitungen und Magazinen erschienen sind. Tatsächlich sind die meisten Reportagen, die mich wirklich packen grenzwertig hinsichtlich der Frage, ob sie wirklich Reportagen sind. Das liegt daran, dass mir niemand je beigebracht hat, was genau eine Reportage ist, und ich es immer noch nicht weiss. Was mir beispielsweise an Gaius Julius Caesars «De Bello Gallico» gefällt, ist, wie er einerseits die Sache mit der Investigation interpretiert, also dass er selber die Feldzüge führt, die er da beschreibt; dann sein Fokus auf Klarheit – er vermeidet Fremdwörter und versucht nicht durch Stil zu beeindrucken – sowie sein Umgang mit dem leidigen Objektivitätsthema. Statt in der Ersten Person Singular von sich zu sprechen, wählt er die Dritte und erhöht dadurch die wahrgenommene Faktizität beim Leser derart, dass seine Worte trotz aller Kritik Geschichte schrieben. Ein cleverer Move, der mir zu Unrecht in Missgunst geraten scheint. Ein ganz anderer Ansatz bei der fantastischen Reisereportage «Odyssee», die ja verfasst wurde, bevor die Reportage als Genre definiert wurde. So würde sich vielleicht eine Chance bieten, das Ganze rhetorisch irgendwie noch als Reportage zu verkaufen, aber darauf verzichte ich jetzt lieber und wähle drei meiner liebsten topaktuellen Texte:
Akpagan K.M. Cyrille – Voyage A Paris ou Un monde occidental vu par un jeune homme d’Afrique noire – Editions Édisercom, Paris 2004
(ungefähr: Reise nach Paris - oder Eine westliche Welt aus der Sicht eines jungen Schwarzafrikaners)
Einmal bin ich in Dakar in einen Buchladen gegangen und ein Traum hat sich erfüllt. Ein Buch, das mir ermöglicht meine eigene Welt aus der Perspektive eines Afrikaners zu bereisen. Rund um die Jahrtausendwende erschliesst sich der Togolese Akpagan Kouassi Mawubédjro Cyrille jene für West-Afrikaner sagenumwobene Kapitale der europäischen Kultur: Paris! Er studiert an der Sorbonne und studiert die Stadt, die Leute, die Technologien, die Politik in einer kompletten Umkehrung dessen wie Europäer das mit Afrika gemacht haben. Dabei hat er Reporterglück gehabt und einige der wichtigsten Tendenzen mitgeschnitten. Digitalisierung, die Entstehung der EU, die Einführung des Euro, das Aufkommen der FN. Besondere Momente beschreibt er in Gedichtform. Eine gute Wahl! Manchmal nehme ich dieses Reportagenbuch und streichle es.
Stewart Brand – Spacewar, Rolling Stone Magazine, 7.12.1972
Diese Reportage erinnert mich immer wieder daran, dass die Welt in der wir leben auch durch Journalisten geschaffen wurde. Diese Reportage ist der Grund warum ich jetzt grade an einem Mac sitze, wenn ich schreibe. Zusammen mit der Fotografin Annie Liebowitz beschreibt der vormalige Herausgeber des Whole Earth Catalogue darin eine seltsame neuartige Subkultur namens Hacker, die grosse Militärmaschinen namens Computer Nachts dazu missbrauchen um ein selbstprogrammiertes Spiel namens Spacewar zu spielen. Man lernt beim Lesen die militärisch-industriellen wie auch die subkulturellen Wurzeln des Netzwerkzeitalters kennen. Brand, später Mitbegründer des WIRED Magazins, hat diesen Text mit der Absicht verfasst, die Idee von Personal Computern zu propagieren. Brands Ansatz war die Realität als Material zu nehmen um unsere Vorstellungen über die Zukunft zu gestalten. Das ist total heikel und zum Teil übrigens in Programmiercode verfasst. Im Magazin REPORTAGEN haben wir das erstmals in der Nummer 16 auf Deutsch rausgebracht.
Jacob Holdt – Bilder aus Amerika, S. Fischer Verlag 1978
Eigentlich wollte der 24-jährige Däne Jacob Holdt 1971 von Kanada aus rüber nach Chile um dort Allendes sozialistische Revolution zu unterstützen. Stattdessen blieb er fünf Jahre in den USA hängen und hat das Alltagsleben der amerikanischen Unterschicht portraitiert. Er hat sich komplett durchgeschnorrt, übernachtete in rund 400 Heimen, bei den ärmsten der Armen wie bei den Rockefellers, und verkaufte sein Blut um Filme zu kaufen für seine Kamera. Das Buch dass er danach rausbrachte war so dermassen schockierend anders als das damalige Amerikabild im Westen, dass der KGB versuchte Holdts Arbeit für sowjetische Propaganda zu missbrauchen. Holdt stoppte daraufhin die weitere Verbreitung. Glücklicherweise hatte meine Mama es rechtzeitig gekauft und ich habe es als Kind so oft gelesen, dass ich irgendwann sogar seine Übersetzungen von Curtis Mayfield Texten darin zitieren konnte. Holdt ist weit weg von jeglicher Sozialromantik, er zeigt das grauenhafteste Elend im gelobten Land mitten vor der Haustür, zeigt einige der ersten Whole Car Graffitis, er ist mittendrin, gleichzeitig hat selbst der elendste Junkie, Mörder und auch Kuklux Clan Aktivist bei ihm seine Würde. Darum geht es. Ein guter Tipp für Reporter ist auch im Buch. Immer wenn er in eine kriminelle Umgebung eintauchte, ist er direkt auf die Leute zugegangen, sobald er spürte, dass sie ihn anschauen. Dann hat er sich vorgestellt, als dass was er ist. In seinen Augen hatten diese Leute einfach besondere Sorge vor unidentifizierbaren Risiken. Sobald sie wussten, dass sie einen armen sozialistischen Hippie, der eine Reportage über das wahre Amerika machen will vor sich hatten, liessen sie ihn machen. Oder gehen. So geht’s. Man muss das lesen, es ist der Wahnsinn.
hannes1 - 15. Mär, 10:39