Social Media im Supermarkt

Der Schweizer Supermarktgigant Migros hat geschafft woran bereits viele Unternehmen scheiterten: Social Media zu nutzen um Konsument und Unternehmen zusammenzubringen.

von Hannes Grassegger

Marketingfachleute schwärmen vom Social-Media-Marketing, dem «Mitmach-Marketing» via Webgemeinschaften wie Facebook oder Twitter. Es verspricht direkte Verbindung zum Konsumenten, Dialog und Einblick in Kundenwünsche. Fast jedes konsumnahe Unternehmen betreibt heute Facebook-Seiten.

Nicht immer mit Erfolg. Manche Facebook-Seiten von Unternehmen verwaisen rasch. Oder Unternehmen tun sich schwer mit der oft unangenehmen Ehrlichkeit der Webkommentatoren. Sie löschen und fälschen Kommentare oder verweigern Antworten auf kritische Fragen. Trotz aller Kontaktversuche über Social Media fürchten Firmen, dass im Netz über sie geredet wird, ohne dass sie mitreden und das Ganze kontrollieren können. Dabei könnten sie einiges aus den Wünschen ihrer Kunden lernen.

Letztes Jahr startete die Migros mit Migipedia.ch den Versuch, Social Media in die eigenen Hände zu nehmen. Kritiker mokierten sich über das Projekt: Eine Nutzergemeinschaft, die sich um so banale Produkte wie Brot oder Eistee scharen sollte? Davon ist heute nichts mehr zu hören. Von den Experten kommt Lob: Migros habe das neue Marketingkonzept wirklich verstanden. Auch der Namensgeber, die Werbeagentur Jung von Matt, ist stolz, was aus ihrem 2008 vorgeschlagenen Migros-Weblexikon entstanden ist.

Die seit Juni 2010 aufgeschaltete Website sieht aus wie eine Kombination von Wikipedia und Facebook. Nutzer von Migipedia, davon etwa 25'000 mit eigenem Nutzerprofil, kommentieren und kritisieren derzeit etwa 9000 Produkte. So hat auch das Butterweggli seine Seite. Besucher können 5 Sterne vergeben für Kriterien wie Preisleistung (4 Sterne), Geschmack (4 Sterne), Zubereitungsvielfalt (3 Sterne). 90 Stimmen sind es aktuell. Unter dem Weggli finden sich Dutzende Kommentare. Nutzerin «Mägi» mäkelt: «Manchmal könnte es etwas regelmässiger geformt werden.» Solche Stimmen sind Geld wert für die Migipedia-Leiterin Leila Summa. Ihr Ziel ist es, durch höhere Kundenzufriedenheit Mehreinnahmen zu erzielen.

Marketing hört dem Kunden zu

«Wir können zuhören, Anliegen und Vorschläge für die Verbesserung unserer Produkte nutzen. Nutzer erhalten vertiefte Informationen, Unterstützung und glaubwürdige Rückmeldung anderer Konsumenten», erklärt Sergio Mare, der erste fest angestellte Community-Manager der Migros. Über die Nutzerbewertungen erkennt Mare die Akzeptanz von Produkten. Vorschläge gibt er weiter. Das Marketing hört mittels Migipedia zu und vermittelt dann zwischen Produktverantwortlichen und Konsument. Migipedia ist wie eine ständig laufende Konsumentenbefragung plus Werbeplattform. Es könnte «die Brücke zwischen Konsument und Produktion» werden, wie einst Gottlieb Duttweiler die Aufgabe der Migros formulierte.

Auf Migipedia gepostete Wünsche waren beispielsweise der Grund für die Rückkehr der M-Budget-Wave-Chips, des Vanilla Coke und des alten M-Budget-WC- Papiers. Migipedia führt auch Abstimmungen zu Produkten durch, die von der Community erdacht wurden. So stehen seit Freitag die von Kunden entwickelten Konfi-Sorten Erdbeermund und Herbstsünde in den Regalen.

Damit nutzt die Migros das brachliegende emotionale Potenzial, das Konsumenten im Umgang mit Alltagsprodukten haben. Mehr als 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind etwa Facebook-Fans des Migros-Ice-Tea. Solchen Menschen bietet Migipedia einen Dorfplatz, auf dem sie sich austauschen können.

Der Detailhändler investierte einen sechsstelligen Betrag in den Aufbau der Plattform. 2010 gehörte das Projekt bereits unter die Top Ten im Budget der Marketingabteilung. Inzwischen umfasst das Budget vier Vollzeitstellen. Die Kosten pro Kontakt bewegten sich zwischen 10 Rappen und 2 Franken, so ein Migros-Sprecher.

Die 2000 Produktideen, die während einer Kampagne eingehen, müssen selektioniert werden. Die Entwicklung zusammen mit Konsumenten sei nicht günstig, meint Miguel Helfrich. Er gilt im deutschsprachigen Raum als Urvater des Social-Media-Marketings. Er hat Tchibo Ideas entwickelt, die Plattform des deutschen Kaffeerösters und Vorbild für Migipedia. Nicht selten müssen Anwälte beigezogen werden, die die patentrechtlichen Fragen hinter den Produktevorschlägen abklären.

«Migros nimmt Kunden ernst»

Auf Migipedia tauchen Schimpfwörter und Abwertendes auf. Auch Angestellte sprechen offen mit. «Metzgerin92», laut User-Profil eine Migros-Fleischfachfrau, beklagt zum Beispiel den schlechten Geruch, den die Kondome mit Erdbeergeschmack nach dem Sex hätten. Der Eintrag wurde nicht entfernt. Die Migros sah sich aber gezwungen, interne Verhaltensrichtlinien für den Umgang mit Social Media zu entwickeln.

Thomas Hutter, einer der bekanntesten Social-Media-Experten im deutschsprachigen Raum, stuft Migipedia als «eines der mutigsten und sinnvollsten Social-Media-Projekte» ein. Die Migros habe Social Media richtig interpretiert und signalisiere, dass sie die Konsumenten ernst nehme und einbeziehe. Auch strategisch macht Migipedia Sinn. Das Netz gilt als einer der wenigen Wachstumstreiber im Lebensmittelbereich.

Die Migros arbeitet daran, Migipedia «stärker in die Onlinelandschaft der Migros einzubauen» und das Projekt «intern besser zu verzahnen», erklärt ein Sprecher. So wird die Website als Kundenhotline etabliert, es gibt die iApp M-Go. Zuletzt tauchten zudem neue Produktkategorien wie Möbel und Sportgeräte auf Migipedia auf. Und seit kurzem gibt es auch eine iPad-Version.

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