Sonntag, 22. März 2009

"Ein neues Wirtschaftssystem entwickeln.“

Vielleicht klingt das in der Krise besonders verlockend: Wenn man genügend Geld hat, hat man Zeit für die Ideen, die einen wirklich interessieren. Und weil man nicht darauf angewiesen ist, kann man sie dann auch mit anderen teilen. Ein wohlhabender Schweizer Unternehmer nahm sich die Zeit, uns sein Wirtschaftssystem mitzuteilen, welches dieses Privileg allen ermöglichen soll.

Aufgezeichnet von Hannes Grassegger

Der eigensinnige Basler Unternehmer Georg Hasler hat ein neues Wirtschaftssystem im Kopf. Er verbindet darin zwei in jüngster Zeit immer häufiger diskutierte ökonomische Konzepte: bedingungsloses Grundeinkommen und eine radikale Veränderung der Eigentumsrechte an Ideen, genannt Freies Wissen. Im IT Bereich sagt man zu freiem Wissen Open Source, und da kommt Hasler auch her. Der drahtige Self-Made Mann ist gelernter Geigenbauer, arbeitete lange als Programmierer und ist nun erfolgreicher Immobilienunternehmer. Hasler ist 38; mag keinen Stress, hat aber in seinem Leben völlig unverhofft ganze Blocks im Basler Zentrum erworben; mit Freunden das gut laufende Basler Café und Kulturzentrum „unternehmen mitte“ (in dem man nichts konsumieren muss und sich trotzdem frei aufhalten darf) begründet und bewegt sich in der eingeschworenen Basler Mäzenatenszene. Kürzlich gab er mir das Manuskript seines ersten Buches in die Hand. Arbeitstitel ist derzeit „Blütenstaubwirtschaft“. Ich bin Ökonom, las sein Werk und dachte, es sei keine Verschwendung von Ressourcen, Georg Haslers Ideen zu diskutieren. Im Folgenden spricht er erstmals über sein demnächst in einem renommierten Schweizer Verlag erscheinendes Konzept.

- Herr Hasler, warum muss sich unser Wirtschaftssystem ändern?

Ich bin der Ansicht, dass wir uns in einem grossen Durcheinander befinden. Wir leben mit den Denkgewohnheiten und Gesetzen einer Industriegesellschaft mitten in einer Informationsgesellschaft. Das passt nicht zusammen und bremst, weil Informationen und Ideen, besonders was ihre Vermehrung betrifft, ganz andere Eigenschaften haben, als Gegenstände. Deshalb sollten wir nicht Ideen wie Gegenstände behandeln sondern ein neues Wirtschaftssystem entwickeln welches dieses Potenzial nützt.

- Was ist der Unterschied zwischen Gegenständen und Informationen hinsichtlich deren wirtschaftlicher Nutzung?

Zwischen einem Stuhl und einer Idee, z.B. der Idee wie man einen Stuhl baut, gibt es einen grundsätzlichen Unterschied. Auf einem Stuhl kann nur eine Person sitzen. Eine bestimmte Idee können beliebig viele Personen gleichzeitig anwenden. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Stuhl nur einen Besitzer haben kann. Wer das ist, muss geklärt sein, um Streit zu vermeiden. Bei einer Idee ist dieser Streitfall nicht nötig, denn niemandem fehlt etwas, wenn dieselbe Idee von allen gleichzeitig benutzt wird.

- Wie sieht dieses neue Wirtschaftssystem aus?

Ein neues effektiveres und zugleich freieres Wirtschaftssystem orientiert sich am besten an der Natur: verschwenderisch in der Vielfalt, grosszügig in der Weitergabe der Gene und haushälterisch im Umgang mit knappen Ressourcen. Das Industriezeitalter hinterlässt uns das Gegenteil, d.h. materielle Verschwendung und geistiges Eigentum. Resultat ist eine lädiertes Ökosystem und ein stressvoller, für Viele beängstigender Alltag. Ich schlage die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens vor, um u.a. den Produktionszwang sinnloser Güter zu unterbrechen. Und ich denke konsequent weiter in Richtung Open-Source in allen Wissensbereichen.

- Warum nicht einfach Grundeinkommen? Warum noch Open Source?

Das Hauptargument gegen freies Wissen, z.B. freie Musik, ist ja immer die Frage, wovon die Denker, Forscher oder Musiker dann leben sollen. Anscheinend hängen die zwei Fragen eben direkt zusammen.

- Was meinen Sie mit Grundeinkommen?

Wenn das Wort „bedingungslos“ fehlt, dann heisst es nur dass niemand verhungert und dies wurde in den Industriestaaten längst erreicht. Das Problem sind die Bedingungen die daran geknüpft sind. Entscheidend wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen für jede Person ab Geburt; genügend hoch um die echte Wahl zu haben, nicht nur geistige Freiheit, sondern auch die materielle Freiheit zu kündigen und etwas anderes zu tun.

- Open Source bezieht sich auf offene Quellcodes bei Software. Sie meinen damit aber gemeinschaftlichen Besitz an Ideen, freies Wissen?

Man könnte Wissen einfach als kulturelles Erbe betrachten. Wie backt man Brot? Wie ätzt man Computerchips? Kultur heisst Wissen zu teilen, zu verbreiten und weiter zu entwickeln. Würde die Natur ihre frisch mutierten Gene nur gegen Gebühren weitergeben gäbe es keine Evolution.

-Was hiesse freies Wissen denn im Alltag? Z.B. für ein Werbeunternehmen, dass vom Verkauf seiner Idee lebt.

Hier geht es um die wirtschaftliche Unterscheidung zwischen Wissen und Können. Das Können einen konkreten Auftrag umzusetzen würde weiterhin bezahlt. Das Wissen welches dabei entstünde, sollte dem Nächsten sinnvollerweise aber nicht vorenthalten bleiben.

-Welcher Anteil der Wertschöpfung der Wirtschaft wäre von Ihrer Idee betroffen?

Das Wirtschaftssystem ist komplett betroffen weil alles zusammenhängt. Jedoch würde sich Vieles in eine sehr interessante, produktivere Richtung verschieben. Vor allem deswegen, weil der menschliche Kern des Wirtschaftens, das kreative Arbeiten von vielen Hindernissen befreit würde.

-Ist Ihr Vorschlag sozialistisch oder kapitalistisch?


Die zwei Systeme sind für mich wie Mann und Frau. Beide müssen sich ergänzen und für eine Informationsgesellschaft weiterentwickelt werden. Viel weiter.

-Was ist die Natur des Menschen in Ihren Augen? Ist er ein fauler Nutzenmaximierer oder ist von sich aus produktiv?

Natürlich beides. Kinder z.B. wollen einfach etwas tun, vom ersten Tag an. Arbeitslose sind über das Nichts-tun unglücklich obwohl sie Einkommen erhalten. Man möchte also etwas tun. Aber etwas, das Sinn macht. Doch auf die bequemste Art und Weise. Dies herauszufinden ist ja gerade das Lustige beim Arbeiten.

-Kann das bedingungslose Grundeinkommen in Verbindung mit Nationalstaaten überhaupt funktionieren? Würde ein einzelnes Land das Grundeinkommen bedingungslos auszahlen, würde jeder dem dieses System nützte in dieses Land ziehen. Müsste der Staat das Grundeinkommen dann nicht auf Staatsbürger beschränken? Was wäre mit den Nicht-beteiligten Einwohnern eines Landes? Dadurch entstünde doch eine Klassengesellschaft?

Das ist eine schwierige Frage zu der praktische Antworten gefunden werden müssen. Sie zeigt auch, dass ein solches System nicht einfach mal im Kleinen begonnen werden kann sondern nur im grossen Rahmen Sinn macht. Das heisst, die nächste Aufgabe ist es, Modelle zu entwerfen und vorurteilslos theoretische Arbeit zu leisten. Und dann braucht es mutige Entscheidungen. Island wäre ein derzeit ein hervorragender Testfall. Oder man könnte hier in der Schweiz eine Volksabstimmung durchführen. Die Dimension der Entscheidung erinnert mich an Situationen im 19. Jahrhundert, den Moment, als die Sklaverei abgeschafft wurde. Das hatten wir schon länger nicht mehr.

-Würde das Einführen von Freiem Wissen einer Verpflichtung gleichkommen, alle Ideen immer allen preis zu geben?

„Eigentum“ ist kein Naturgesetz sondern ein Rechtstitel, d.h. eine kulturelle Erfindung. Die Frage ist also, welche Dinge „eigentumsfähig“ sein sollen. Das muss ständig neu definiert werden. Früher zählten zum Beispiel auch Menschen, also Sklaven zum Eigentum. Das wurde abgeschafft. Dafür wurden in den letzten Jahrzehnten Eigentumstitel auf biologische und physikalische Entdeckungen vergeben. Das ist neu und ich meine katastrophal. Diese Gebiete sind wirtschaftlich wesentlich relevanter als das Downloaden von Musik oder Software, aber weniger sichtbar.

-Das jetzige Urheberrechtsystem ist doch klasse: Jeder kann jede Idee freigeben, wenn er will. Darüber hinaus hat er die Freiheit, für sich zu reservieren, was ihm zusteht: Patente etc. Würde Ihr Vorschlag diese Möglichkeiten nehmen, wäre die Freiheit des Einzelnen geringer. Ist Ihr System unliberal?

So frei ist das gar nicht derzeit. Wer z.B. Mitglied bei der GEMA ist, darf nicht mehr unter Creativ Commons [einem flexibleren Urheberrechtssystem; d. Red.] veröffentlichen. Wer an der Universität oder in Firmen forscht, unterliegt strikten Regeln.

-Wer steht hinter der Idee der Kombination freien Wissens und des bedingungslosen Grundeinkommens und würden Sie davon profitieren?


Es ist nicht nur meine Idee. Am bedingungslosen Grundeinkommen und an Open Source arbeiten Viele seit langem. Ich setze mich einfach dafür ein, weil mir beides eine logische Lösung scheint, um eine nachhaltigere, lustvollere Welt zu schaffen, die auch unserer Technologie entspricht.

-Woran wird Ihre Idee scheitern?

So denke ich nicht.

-Wenn Sie für Freies Wissen sind: Gibt es ihr Buch dann kostenlos im Internet? Und darf jeder es einfach umschreiben und weiterverbreiten?

Downloaden klar. Aber gedruckte Bücher sind schöner zum Lesen. Den Text umschreiben? Nein. Aber die Ideen nehmen und selber weiterdenken – hoffentlich.

Kurztrip in die Vorhölle

Alle beneiden mich um einen Kurztrip. Ich war in der Vorhölle. Fast vor der Haustür schrien mir die Verdammten entgegen. Urlaub in der Heimat. Irre.

für "das Magazin" von Hannes Grassegger

Zu Fuss durch die Sahara oder 2000 Kilometer im Fischerboot auf dem Atlantik – Migranten sind Pioniere des Extremtourismus. Die Bilder der Afrikaner auf Fuerteventura gingen um die Welt. Nach dem Rausch der Ankunft folgt das nächste Level: Das Asylverfahren. Eine Reise über innere Grenzen.

Nun bietet Limbo Travels, eine „Agentur für Grenzerfahrungen“ Asyltourismus für Einheimische. Gefühlstourismus, den Trip in den Limbo, eine Reise in den Schwebezustand, verspricht der Veranstalter. „I’m in a Limbo“, sagt man auf Englisch, wenn man unentschieden ist. In der ewigen Schwebe zwischen Glück und Leid warten die schuldlos zu Schuld gekommenen im Limbus, dem von Dante Alighieri bereisten, äussersten Kreis der Hölle.

Ich wähle eine Schnuppertour. Vier Stunden, Zürich - Kloten retour. Ausgangspunkt ist der Wartesaal des Zwischendecks im Hauptbahnhof. Der Reiseführer heisst Matto Belmondo, ein Typ mit Piratenvisage und weissem Leinenanzug. Erst kassiert er mein Handy und eine Pauschale ein. Dann den Pass. Im Gegenzug gibt er ein Mobiltelefon mit Headset sowie einen visitenkartengrossen Passersatz aus. Das Papierstück trägt meinen Namen, mein Geburtsdatum, die Nationalität, sowie eine Nummer und ein Passbild.

In der S-Bahn nach Kloten testet der Reiseleiter den Audioguide. Ein Legionärsgesang läuft über unsere Kopfhörer. „Kameraden wir haben die Welt gesehen.“

Am Flughafen steigen wir aus. Das Guideprogramm steuert uns. „Die Rolltreppe hinauf, jetzt links, stehen bleiben. Sehen sie nach oben. Kameras. Weiter. Achtung. Polizei. Weiter.“
Wir gelangen in ein verstecktes, halbdunkles Gebetszimmer. „Irgendwo hinter dieser Wand“, flüstert unsere Kopfstimme, „befindet sich der ehemalige Andachtsraum des Transit. Jetzt aber wird der Raum benötigt. Für Asylbewerber im Schnellverfahren. Diese warten eingeschlossen im Transit auf ihre Ausschaffung. Dort bewegen sie sich frei zwischen den Reisenden und leben von Gutscheinen für Duty Free Shops.“

Plötzlich hat es unser Guide eilig. Wir rennen durch das Labyrinth, Türen öffnen sich, es wird hell, atemlos stehe ich im Freien. Ein Bus bringt uns ins Industriegebiet Glattbrugg. Linker Hand Bürogebäude, rechts ein Bauernhof, nebenan Wald. Peripherie statt Reiseziel.
Wir folgen Feldwegen, staken durch Gestrüpp und gelangen zu einem wuchtigen, sechsstöckigen Plattenbau mit hohen Stacheldrahtzäunen. Belmondo verliest die Spezifikation seines Reisekataloges. Der graue Klotz ist das Flughafengefängnis und wurde 1994 ursprünglich als Untersuchungsgefängnis konzipiert. Von 214 Plätzen dienen nun 106 zur Ausschaffungshaft, unterteilt in Einzel- und Dreierzellen. Unterschiedliche Ethnien können durch Gatter getrennt werden, 73 Mitarbeiter garantieren den Service für die als Klienten bezeichneten Ausländer. Ziel der Haft ist einzig die Bereithaltung für die Ausschaffung. Einfach Warten, solange das Verfahren eben läuft. Neun Monate dürften eigentlich nicht überschritten werden.
„Warten ist eine Schande in unserer Welt, Zeichen eines niedrigen Status und bewusste Zermürbungstaktik.“ kommt es aus unseren Kopfhörern.
Plötzlich dringen Schreie aus dem Bau. „Was macht ihr hier?“, ruft eine englische Stimme, „Das ist Babylon. Du kannst eingeschlossen werden für zwei, drei Jahre. Für nichts. Illegal. Es gibt kein Menschenrecht in der Schweiz.“ „Sie schubsen uns, fesseln uns, mit Gewalt. Das ist hässlich“ ruft ein Anderer. „Das kann ja nicht wahr sein, das ist schlimm. Wir überleben. Wir werden überleben.“ Ich denke an Dantes Reise, die Schreie der Verdammten. „12 Monate. Für nichts“ klagt die zweite Stimme. Dann ein heulendes Jammern. Ein sanfter Warnton erklingt und eine weibliche Stimme fordert uns auf weiterzugehen.**

Vorbei am Gefängnis zu einer angrenzenden Containersiedlung. Mein Guide räuspert sich. „Und jetzt wenden wir uns dem Rümlanger Spezialzentrum Rohr zu. Eine weitere Station für unsere Klienten. Beachten sie die Architektur. Minimal, funktional und temporär.“ Donnernd zieht ein Jet über uns hinweg. „Geniessen Sie den direkten Blick auf den Flughafen.“
Drei Trakte aus stählernen Schiffscontainern bilden ein Lager für Problemfälle unter den Asylsuchenden, etwa 50 Menschen die in irgendeiner Lücke des Asylverfahrens feststecken. Ausschaffung oder Glücksfall; räumlich unterteilt in Afrikaner, Araber und Leute aus der GUS. Ein einziger schaffte es einst von hier aus legal in die Schweiz, erzählt unser Audioguide.

Aus einem Fenster winkt uns ein Mann zu. Er lädt uns ein, hereinzukommen, doch eine Aufpasserin hält uns auf. Er fordert unsere Ausweise als Pfand. Erstaunt betrachtet der Angestellte unsere Ersatzpapiere, doch er nickt und lässt uns hinein.
Der Asylantenbehälter ist aufgeräumt, Putzpläne hängen an der Wand. Die Decken sind niedrig, Flugzeuglärm erschüttert das Provisorium. Unser Gastgeber Jonas* bittet uns in den Gemeinschaftsraum. Ein Tisch mit Sofaecke und Fernseher, ein Hiphop Video läuft. Er serviert Limbo-Spezialitäten, Nèscafé und Kochbananen. Sudan sei seine Heimat, er sei seit drei Jahren in der Schweiz im Verfahren. Er zeigt uns seine Identitätskarte, die genau aussieht wie mein Passersatz. Im Heim sei er neu. Es herrsche permanenter Ausnahmezustand. Alle seien gestresst, einige psychisch gestört. Die Kontrolle, die Ungewissheit, das ewige Warten. Hinter Jonas schleicht eine Frau vorbei. Die Einzige hier, flüstert er. Am schlimmsten sei das Dynamisierungsverfahren. Seit neuestem müssten abgewiesene Asylbewerber sich alle sieben Tage in Zürich immer wieder neu um eine Bleibe bewerben. Wohl damit man rastlos bleibe, vereinsame und aufgebe. Einige „7-Täger“ hätten Rayonverbot und dürften Zürich nicht betreten, für die Bewerbung müssten sie aber in die Stadt und machten sich somit kriminell. Qualvoll sei auch, dass man nicht arbeiten könne. Er habe 17,50 in Bar pro Woche, sonst nur Gutscheine. Man warte und warte, jeden Tag könnte man abgeholt werden, in der Heimat erwarte einige die Hölle.

Wir müssen weiter. Nur jede Stunde fährt hier wo, Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen, der Bus. Wir haben ihn verpasst. Ratlos stehen wir am Strassenrand.

Da hält ein Wagen, der Fahrer bietet an uns mitzunehmen. Auf der Fahrt unterhalten wir uns. Ich sei Tourist, erkläre ich. Auch er reise gerne, meint der Fahrer schmunzelnd, mehrmals im Jahr nach Asien. Gerade sei er wieder auf dem Sprung nach Bangkok. Mit Schweizer Pass hätte man sich früher sogar immer wieder etwas dazu verdienen können. Oft hätte er Angebote erhalten, Gratisflug und Aufenthalt inklusive. Man hätte nur mit Fremden gemeinsam durch die Passstellen der Flughäfen gemusst. Migranten mit gefälschten Papieren, die sich in Begleitung sicherer fühlten beim Grenzübertritt. Er sehe sich da eher als Helfer. Schliesslich dürfe jeder gehen, wohin er wolle. Das sei Menschenrecht.

An der Ecke Lang/Militärstrasse werden wir abgesetzt. Unser Guide muss dringend etwas erledigen. Er verschwindet. Wir warten. Auf unsre Pässe.


(Anmerkung: Dieser Text wurde im Herbst 2007 im Auftrag des Schweizer Magazin verfasst aber nicht abgedruckt. Merci Finn.)

*Offizielle Identität der Redaktion bekannt
** Video Mitschnitt geplant unter www.dasmagazin.ch

Kasten:

Der Reiseveranstalter, Schauspieler und Performancekünstler Andalus, 36, studierte Neue Medien in Zürich und Schauspiel in Bern. Als DJ heisst er Andaloop, als Tourguide Matto Belmondo. Limbo Travels entstand im Rahmen seiner Diplomarbeit an der HGKZ. Touren sind ab Oktober nur im Netz buchbar. Für den Limbo Man, einen Doppeltriathlon von Marokko nach Gibraltar würde Liniger gerne Ernesto Bertarelli als Sponsor gewinnen. Informationen unter www.limbolife.org

Mittwoch, 17. Dezember 2008

Arthur Russell

Ca. 1981

Ein Film und eine neue CD stellen den musikalischen Avantgardisten Arthur Russell als Pop- und Folksänger vor.

Von Hannes Grassegger

Langsam erkennt die Welt, was sie an Arthur Russell gehabt hat, dem 1952 geborenen und 1992 an Aids verstorbenen Cellisten. Seit ein paar Jahren wird dieser Musiker neu entdeckt, der in den 70er Jahren indische und klassische Musik studierte, der in der Avantgarde wie in der Disco verkehrte und der in seinen leichtfüssigen Kompositionen die Songwriter-Tradition mit Neuer Musik verband. Man sieht im Amerikaner den Missing Link zwischen Avantgarde und Disco, und Kritiker vergleichen seine Bedeutung mit der von Brian Eno.

Jetzt könnte auch ein breiteres Publikum auf Arthur Russell aufmerksam werden: Der Film «Wild Combination», eben auf DVD erschienen, erzählt sein Leben, und die CD «Love Is Overtaking Me» zeigt eine neue, unbekannte Seite dieses Künstlers - den Popmusiker und Singer/Songwriter.

Late 80ies

Todkrank, manisch komponierend

Im Dokumentarfilm des jungen Regisseurs Matt Wolf wird Arthur Russell erstmals überblickartig porträtiert. Streng chronologisch, wie das bei diesem komplizierten Lebensweg kaum anders möglich scheint, stellt Wolf den Weg Russells vom Landei zum gefeierten Discoproduzenten dar - und zum halbvergessen dahinsiechenden, manisch komponierenden Aidspatienten. Sein Lebenspartner Tom Lee, aber auch der Dichter Allen Ginsberg oder der Komponist Philip Glass bieten Einblicke in das Leben des homosexuellen Aussenseiters, der nach seiner Flucht aus der ländlichen Provinz in San Francisco einer buddhistischen Sekte beitrat und diese verliess, um mit Ginsberg zu musizieren. Der 1973 mit dem Traum, Pophits zu schreiben, nach New York zog, dort musikalischer Leiter des Avantgardelaboratoriums The Kitchen wurde und dann sein Herz ans Nachtleben verlor.

Schöne Aufnahmen der Partys im The Loft machen verständlich, wie der an serieller Musik geschulte Russell in New Yorks monotonen Rhythmen und blühender Gay Community vieles von dem fand, wonach er immer gesucht hatte. Seine chaotischen, hippiesk improvisierten Aufnahmesessions mit einigen der berühmtesten New Yorker Discogrössen - Nicky Siano, Larry Levan, die Ingram Brothers - brachten Disconummern hervor, für deren Originale die Sammler heute Hunderte von Dollars hinblättern.

Countryboy

Der Avantgardist als Popsänger

Spätere Soloprojekte zeigen eine andere Seite. Hier lässt Russell seinen zwischen brüchigem Falsett und flächigem Tenor wechselnden Gesang einzig durch die abstrakte Rhythmik seines im Pizzicato gespielten Cellos begleiten, selten ergänzt durch Schlagzeugcomputer.

Der Film zeigt wenig, was man über Arthur Russell noch nicht gewusst hat. Er ist für Einsteiger aber eine gute Gelegenheit, diesen musikalischen Einzelgänger kennen zu lernen. Auch für Kenner eine Entdeckung ist aber der Popmusiker Arthur Russell: «Wild Combination» präsentiert bisher unveröffentlichte Folk-, New-Wave- und Country-Nummern aus Russells Nachlass, die durch Eingängigkeit und kompositorische Eleganz bestechen.

Diesen Russell, der an der Gitarre über Gott und Girls (!) singt, den kannte man noch nicht. Seine Dreiminutensongs sind auch auf der neusten CD auf Audika greifbar, auf jenem Label, das eigens zur Veröffentlichung des Russell-Nachlasses gegründet worden ist: «Love Is Overtaking Me» ist eine sehr empfehlenswerte Sammlung in teilweise begrenzter Aufnahmequalität. Aber so klingt es halt, wenn man aus dem Grab heraus Pophits veröffentlicht.

Wild Combination: A Portrait of Arthur Russell. Regie: Matt Wolf (Plexifilms).

Arthur Russell: Love Is Overtaking Me (Audika).

Dienstag, 12. August 2008

Nicht immer ist fair drin, wo fair draufsteht

Das Geschäft mit Fair-Trade- und Bioprodukten wächst mit bis zu 50 Prozent pro Jahr. Das zieht auch Firmen an, die nicht ganz korrekt arbeiten.

Von Hannes Grassegger

Die Max-Havelaar-Bananen verstauen, den Hybridwagen starten, die Lippen mit tierversuchsfreier Schminke nachziehen und den Rock aus sozialverträglicher Produktion zurechtrücken, fertig ist der Lohas. Lohas - Lifestyle of Health and Sustainability - ist das Marketing-Kürzel für Konsumenten, die versuchen, gesund und nachhaltig einzukaufen, ohne dabei ihren Anspruch an Qualität zu senken.

Schätzungen, wie gross diese neu entdeckte Zielgruppe ist und wie viel Geld sie zur Verfügung hat, variieren je nach Land stark. Fest steht aber, dass sie auf immer mehr Konsumgütermärkten rege bedient wird. Ob Niedrigenergie-Laptops von Fujitsu, Hybridautos von Toyota oder Fair-Trade-Shirts von Coop - der Markt boomt. Vorbild sind die Biolebensmittel: Ihr Marktanteil liegt in der Schweiz bereits bei knapp 5, in Grossbritannien gar bei 7 Prozent.

Moral ist ein Markt

Laut dem Konsum Report Schweiz von ZKB, WWF und der Universität Zürich glauben 80 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer, dass die Verantwortung für die Lösung drängender Umweltprobleme bei ihnen selber liegt. Übersetzt auf das Kaufverhalten, erklärt dies auch die überproportionalen Zuwachsraten im Bio- und Fair-Trade-Sektor. 25 bis 55 Prozent Marktwachstum prognostiziert beispielsweise der Biobaumwollverband Organic Exchange weltweit für das Jahr 2008.

Dahinter steckt eine Verhaltensänderung: Der Konsument achtet beim Einkauf nicht nur auf Preis und Leistung, sondern zahlt für die Verringerung schädlicher Effekte seines Konsums. Das widerspricht den theoretischen Annahmen der klassischen Ökonomie. Der deutsche Volkswirt und Kulturwissenschaftler Nico Stehr wittert deshalb gar eine «Moralisierung der Märkte». Zunehmender, weiter verbreiteter Wohlstand und steigende Bildung seien Ursachen dieses tief greifenden sozialen Wandels.

Wenn der von mexikanischen Indiogemeinden produzierte Fair-Trade-Kaffee sich gegen qualitativ ähnliche, aber günstigere Konkurrenz im Supermarktregal behauptet, so sieht Stehr darin einen Beleg für seine Annahme, dass die materielle Rationalität der Ökonomie im Zeitalter des Überflusses zurücktritt.

Noch sind die Preisunterschiede von normalen zu fair produzierten oder ökologischen Produkten aber im Verhältnis zu den tatsächlichen Mehrkosten zu gross. Bei einem T-Shirt etwa machen die Löhne nur gerade 0,4 und das Material nur 8 Prozent der Gesamtkosten aus, wie 2005 aus einer Studie für das deutsche Umweltministerium hervorging. Hingegen fallen ein Drittel der Produktionskosten im Marketing an.

Fair oder falsch?

Das ist umso problematischer, da der Kunde bis heute keine Garantie erhält, dass er auch bekommt, wofür er bezahlt. Ein Beispiel dafür ist der amerikanische T-Shirt-Produzent American Apparel. Jahrelang galt das Unternehmer als «Öko-Kleiderfirma». Auf der Welle dieses Rufs reitend, entstand so in den letzten 10 Jahren ein börsenkotierter Konzern mit weltweit 180 Filialen und einem Umsatz von 435 Millionen Dollar. Zertifikate, die Fairness und Ökologie bescheinigen, gibt es allerdings keine. Das Wirtschaftsmagazin «Brand eins» berichtete kürzlich, dass die «einzige Produktionsstätte» des Konzerns 70 Prozent der fertigen Stoffe von Drittanbietern bezieht. «Woher die Zulieferungen kommen, mag American Apparel nicht verraten», so das Magazin. Konkrete Vorwürfe gibt es keine. Die Unsicherheit alleine ist aber bereits ein Problem.

Mit der zunehmenden Bedeutung des Marktes für fair produzierte Produkte zeichnet sich hier aber eine Wende ab. Erneut haben es Bioprodukte vorgemacht: Nur mittels Labels, Zertifikaten und Mindestanforderungen lässt sich die Marke Fair Trade vor Missbrauch und Verwässerung schützen. Je härter der Wettbewerb, desto grösser das Interesse der Unternehmen, sich vor Trittbrettfahrern zu schützen.

http://sc.tagesanzeiger.ch/dyn/news/wirtschaft/923374.html

Samstag, 7. Juni 2008

An Introduction to Switzerland's Artistic Epicenter

When hungry for subculture and the arts, I always use the same tactics. I’ll find the city’s center, or the main train station, and start walking. Then I try to find a worthy take-away. You never find authentic food in those places indicated in guide books. You find it in those little places run by immigrants, regardless of whether it’s in Camden Town, London, Rue de Charbon, Paris, Berlin’s Neukölln, or Zürich’s Kreis 4 and 5, known as the Langstrasse Area, Switzerland’s most lively and colourful place to be for artists.

Needle Park Zurich

As soon as there are posters and graffiti on the walls, Turks selling fruit, and junkies asking for spare change, I know I’m in the right place. The stores are less glossy here, flats are cheaper, and soon I’ll find something nice to eat. And then – and I bet it doesn’t take more than five minutes – I’ll begin to see them walking around, the young couples, dressed in their typical melange of flee-market (excuse me) individuality and pret-a-porter accessories. To be sure, they are probably future lawyers or musicians, but they live just around the corner, go out often at night, and share a common interest: the arts and the life of its subculture. And this is what this Issue of Nomadpaper is all about, in Zürich today.

David Fischli und Peter Weiss

And in Zürich, I recommend that you start out by eating at a friendly Lebanese fast-food place called Délices d’Orient, 10 minutes by foot from the main station, and close to the southern end of Langstrasse. Langstrasse means Long Street, and for this small city of 370,000, it is indeed a very long street, approximately 2 kilometers. But what is important is that it connects Kreis 4 and 5, Zürich’s most lively and creative areas.

At one time, only workers and a small community of Jews lived in this area. It was called Aussersihl. When it declared bankruptcy in 1893, it was integrated into the larger city of Zürich. But ninety relatively tranquil years later, Zürich experienced a series of violent youth revolts which aimed at establishing culture centers for the young, as well as creating a new and autonomous Aussersihl. And it was in the wake of this unrest that not only an influential punk subculture developed, but also a drug scene which became known world-wide. Throughout the late eighties and early nineties, addicts from all over Europe came to so-called “Needle Park,” located right in front of the main train station, and just three minutes from the northern end of Langstrasse. Imagine a gathering of hundreds of junkies in the midst of this business capital. Inner city kids grew up playing “cops” and “junkies.” It’s Switzerland, remember.

In the mid-nineties the local administration closed down the park. What this meant was that junkies flooded the Langstrasse. One result of this was that the rents sank to an incredibly low level, in comparison to the rest of this expensive city (compare the situation to Paris), and those who couldn’t afford more, and were willing to deal with the noisy, smelly streets and the red light environment, were able to find a place with a lot of formerly, very uncommon liberties. And given that the police were too busy to be bothered with petty crime or trying to close down the booming scene of illegal clubs, the areas of Kreis 4 and 5 – the Aussersihl -- finally became once again, in some sense, autonomous. And a massive inflow of young people began.

But other things were happening. In Kreis 4, in 1986, the first alternative art space, Kunsthaus Oerlikon, had started what was often an alcohol-financed mixture of local arts activism and a “good time,” and as it turned out, throughout the nineties this “in-between” party-gallery mix, mostly in places selected at the last-minute, began to spread throughout the Langstrasse area. In spite of the fact that those participating were mostly local, what was important was that people were connecting, developing visions, and proposing wild, creative, weird and often funny projects. One of the many young galleries emerging at the time is said to be founded on money coming from a marijuana plantation. But from all this emerged a Zurich arts scene which has grown rapidly and is now internationally recognized. The period from 1999 to 2003 was called “Das Zürcher Kunstwunder” -- the Zurich Arts-Wonder. And while Swiss feuilletonists predicted it wouldn’t get bigger, it did. And finally it has become visible to everyone. In the Langstrasse.

Cristian-Andersen

But let’s go back to our Lebanese fast-food place, Délices d’Orient. After we have gotten our take-out, we will start out from near a squatters’ building called the Kalkbreite, which is at the south pole of Kreis 4. After the youth revolts, political squatter activism merged with creative action into a sort of pragmatic punk-anarchism, and this movement has strongly influenced the Zürich art scene. A few meters away here, the Langstrasse begins, and as we walk along we will soon cross the infamous Kanzlei-areal. Saturdays, it’s a colourful flee market, but also turns into a meeting point for the entire art scene of the young. It is quite possible that Cristian Andersen – one of the other artists featured in this issue -- will pass by and say “Hi!,” while over there is Jean-Claude Freymond Guth, founder of Les Complices (just 1 minute from the Flee market), and now working with the Perla Mode. And nearby are some of the city’s best record stores and bars. Two blocks up, we will see Zürich’s most important Off-Space Perla Mode , shared by Nieves Books (who publishes magnificent little art-books!), and Esther Eppstein (Zürich’s Madame Off-Space), and Freymond Guth and the Wartesaal collective. And then there is Giovanni Carmine (PAGE XX), curator of Kunsthalle Sankt Gallen, who could call Perla his living room. Just across the street, we can see the newly integrated Café-Club-Store, Das Haus. And at the next intersection, on the left, just look up and you will see the Schönegg Haus, home of the arts and grafics magazine soDA, a magazine that is sold at places like the Tate Modern.

Esther Eppstein

A bit further north, after going over the tracks of the main train station nearby, we arrive at Kreis 5. Here we have institutions rather than “squats”: The Museum for Gestaltung (offering collections of Design, Grafics, Posters and Arts), the Zurich University of Arts, and the brick-red Löwenbräu Areal, a former factory perched 200 meters from the top of Langstrasse, and transformed in 1996 into a huge center for contemporary arts, housing Kunsthalle, Migros Museum, and several international gallerys like Kilchmann, Luxembourg de Pury and Hauser & Wirth.

If you are still hungry for the arts and its subculture after making your way along these two kilometres, you have a problem! But just in case you aren’t hungry, there are some perfect restaurants in Kreis 5. And while you are dining, you can reflect upon this incredibly condensed, very productive and internationally successful artist community – or start reading No Mad Magazine to nibble on more details.

check: http://www.nomadpaper.com/zuri-ba_img.html

Mittwoch, 30. April 2008

Seine Feinde nennen ihn Joe

main man for every leftwinger

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, ehemaliger Chefökonom Bill Clintons, gefeuerter Vizepräsident der Weltbank und Autor kritischer Werke zur Globalisierung, liest im Kaufleuten.

Von Hannes Grassegger

Joseph Stiglitz kennt die Räume, in denen aus Ideen Realitäten geschmiedet werden. Er bestimmte seit 1993 die Wirtschaftspolitik Clintons und ab 1997 die der Weltbank. Sein ökonomischer Rat entfaltete existenzielle Konsequenzen für Menschen, die seinen Namen nie gehört hatten und auf der anderen Seite des Erdballs lebten.

Stiglitz war Vizepräsident der Weltbank, als sich in Seattle 1999 die Stimme des Protestes gegen den vermeintlichen Wirtschaftsliberalismus lautstark erhob, und er sah seine Zweifel an der «ökonomisch unklugen Politik» des IWF bestätigt, die «einseitig den Interessen der Kapitalgeber diene». Im Jahre 2000 war er politisch nicht mehr tragbar. Er hatte den Internationalen Währungsfonds und damit indirekt die Weltbank öffentlich wiederholt schwer kritisiert. Die Ära Clinton war vorbei und Stiglitz musste dem Druck von ganz oben weichen. Er war auf der falschen Seite.

Die politische Welt der Ökonomen zerfällt in zwei Lager. Die Diskussion über den Sozialismus ist eingeschlafen, gestritten wird über die Rolle des Staates. Während die Marktliberalen aus Effizienzgründen für die Utopie einer Welt (fast) ohne Staat kämpfen, vertritt Stiglitz die Gegenseite und plädiert für staatliche Marktsteuerung. Exemplarisch dafür stehen zwei Buchtitel zur Globalisierungsdebatte, dem offenen Schlachtfeld dieses Streits. So erschien 2004 das umjubelte Werk «Why Globalization Works» des wirtschaftsliberalen Chefökonomen der «Financial Times», Martin Wolf; 2006 konterte der 36fache Ehrendoktor Stiglitz mit seinem aktuellen Werk «Making Globalization Work» («Die Chancen der Globalisierung», Siedler-Verlag).

Der Nobelpreisträger von 2001, heute Professor an der Columbia University in Manhattan, hat bereits vor Jahrzehnten die Möglichkeit eines Marktversagens theoretisch bewiesen. Basierend auf der Annahme ungleich verteilter Informationen widerlegte er theoretische Ergebnisse, die lange dazu benutzt wurden, unter anderem die «Interessenpolitik des IWF» zu legitimieren.

Der 1943 in der Stahlstadt Gary, Indiana, geborene, demokratisch geprägte Jude Joseph E. Stiglitz hat eine politische Mission. Zwar befürwortet er den Globalisierungsprozess als wohlfahrtsförderlich, doch weist er zugleich auf die Gefährdung des Gesamtprozesses hin, sollten die Verlierer der Veränderungen von den Gewinnern nicht ausreichend entschädigt werden. Diese Umverteilung benötige staatliche Eingriffe. Stiglitz erkennt bis heute nicht an, dass der freie Markt die Probleme der Globalisierung alleine lösen kann. Kenneth Rogoff, Direktor der Forschungsabteilung des IWF, erklärte «Joe» deswegen bei einem öffentlichen Shootout in der Weltbank im Jahre 2004 für geistig krank. Doch sowohl die in die Millionen gehenden Verkaufszahlen seiner Bücher wie auch der Umstand, dass er für seine Kritik geschasst wurde, haben den renitenten Forscher in seinem Anliegen nur noch mehr bestärkt.

In Zürich wird Joseph E. Stiglitz sein neues Buch präsentieren: die Konzepte eines der einflussreichsten lebenden Ökonomen, verständlich erklärt und gut gedacht, wenn auch bisweilen ein bisschen rechthaberisch. Reservation dringend empfohlen

Donnerstag, 10. Januar 2008

Kultur ist, wie wir leben

Hannes Grassegger, Zürich

Vor einem Jahr wurde die Jägergasse geschlossen; vor einem Jahr wurde Sihlcity eröffnet. Alle Vermarktung hin oder her – Jeder weiss: Kulturbesetzungen gehen. Und kommen wieder. Mit der Langstrassenkultur aber ist bald Schluss.

Kultur zu Geld machen muss nicht unbedingt schlimm sein. Es klappt bloss meist nicht. Oder ist total unnötig. Der Versuch, die Sihlpapierzeit, eine vorübergehende «Kulturbesetzung» eines alten Fabrikgeländes, mit ihren Konzerten, Partys und Ausstellungen in einen Standortvorteil für das später dort errichtete Büro- und Shoppingcenter Sihlcity, umzuwandeln und die Kultur zu kapitalisieren hat sich als unnötig erwiesen. Weder DJ Tatana noch Burger King brauchen Squatappeal. Sihlcity ist eine stinknormale Gewerbegegend auf der grünen Wiese, hier will niemand Kultur als Ersatz für nichtvorhandenes Geld.
Im Fall des Jägergasse Squats liess sich das für die Eigentümerin der Liegenschaft arbeitende Werbebüro von der Besetzung „inspirieren“. Man drehte Werbespots im Demo-Stil und nutzte die unverhoffte Publicity um den hässlichen Betonklotz mit Werbeplakaten zu behängen. Das kann man klasse kreativ finden. Ist aber auch belanglos. Kultur und Cash? Egal was es brachte, nichts ging verloren. Genau deswegen ist ein anderer Vorgang in Zürich interessanter:

Die Gentrification* der Langstrasse

Sexshops, Drugdealers and Rock’n’Roll-Bars - die Zürcher Langstrasse ist (zusammen mit der Genfer Paquisgegend) der bunteste Ort der Schweiz ist. Es gibt genügend Volk von überall her um die Strassen zu beleben, Künstler und Studenten, welche die Bars und Galerien füttern, aber auch ausreichend Junkies, um die ängstlichen Langweiler fern zu halten, die einem mit ihren pikierten Gesichtern das Leben schwer machen würden. Die Essenz der Langstrassenkultur aber sind die Menschen, die in der Gegend leben und arbeiten. Diese Leute schaffen Freiheit. Das haben eine ganze Menge Ausländer und nicht ganz so viele Schweizer sich so eingerichtet. Die afrikanischen Dealer, welche die Drecksarbeit des Stoffverkaufs übernehmen, die tanzenden Latinos, die nachts gern streiten und die Kunstszenis des «Perla Mode», die versuchen, irgendetwas zwischen Karriere und Party zu konstruieren. «Kulturelles Kapital» ist ein Interpretationsmuster und steckt in Leuten. Wenn die gehen, geht auch die Kultur. Wie das ohne aussieht, sieht man am Rest der Schweiz – auch darum retten sich viele unkonventionelle Köpfe nach Zürich.

Wir bauen eine neue Stadt

Allmählich kippt das Gemisch. Die Dichte an sauberen Etablissements nimmt zu. Casablanca Café, Longstreet Bar, Club Zukunft, Die alte Metzgerei, Hotel Rothaus – man kann Tag und Nacht an der Langstrasse verbringen, ohne mit den An- und Bewohnern etwas zu tun zu haben. Die Initianten und Betreiber dieser neuen Welle sind meist lokale Subkulturvermarkter die ihre Erfahrung und Reputation im Potenzial der Langstrasse versilbern wollen. 2008 wird Barbetreiber und „Lebemann“ Yves Spink (Longstreet, Talacker Bar) das grosse Restaurant im Volkshaus übernehmen, und zusammen mit der ersten Shopping Mall im Quartier («Das Haus» featuring DJ Spruzzi, Laurence Desarzens, Hunkeler Brüder) ist dann auch Potential zur Bedienung grösserer Massen vorhanden. Aller Schmutz muss daher raus.

Erfolgreich waren in diesem Zusammenhang auch die Anwohner-Initiativen, der Stadt und der Gewerbetreibenden. Aus dem ehemaligen Junkieloch Bäckeranlage wurde ein Kinderspielplatz und die Verkehrsberuhigung der Langstrasse ist im Stadtparlament abgesegnet. Ideen zum Bau des unterirdischen Parkhauses am Helvetiaplatz kursieren. Wer einmal in Berlin, London oder im Seefeld gelebt hat, weiss was kommt: Sie werden uns mit ihren Kinderwagen überrollen. «Reverse Sensitivity» nennt man das Phänomen der abnehmenden Lärm und Schmutztoleranz in Quartieren, in denen sich junge Familien gründen und solide Mieter mit Fulltime-Jobs zuwandern. Einst kam man zwar wegen der Freiheit, aber bald ist es genug.

Wie lang noch Langstrasse?

Ökonomisch gesehen ist das recht einfach. Laut einer Studie von März 2006 halten die Hauseigentümer mit den Sanierungen noch zurück. In der Regel zögern breitgestreute Besitzverhältnisse eine konzertierte Sanierungswelle hinaus. Die Erwartung steigender Renditen durch zahlungskräftigere Mieter verhindert zudem einen Ausverkauf der Gegend. Zur Sanierung (63 Prozent Altbauten, erbaut vor 1914) müssen viele «kleine» Hausbesitzer erst einmal das Kapital für einen Umbau organisieren. Das wiederum hängt von der Einschätzung der Banken ab, die beurteilen ob sich Kredite in dieser Ecke lohnen.

Alle blicken daher auf die Langstrasse und ihre Geschäfte. Zielpublikum ist die breitere Masse, Mittel dazu eine Erweiterung des Angebots. Dies zeigen nicht nur die Werbeposter des Vereins Langstrassenmarketing, sondern auch die Bereitstellung eines städtischen Kredittopfes von zwei Millionen Franken für Gewerbegründer mit passenden Ideen. Raus mit den Puffs, her mit den Boutiquen. «Das Haus», wird als Barometer dienen, an dem Investoren messen können, ab wann es sich lohnt, konventionell im Quartier zu investieren. Das Jahr 2008 wird wegen der Fussball-EM eine Ausnahmesituation darstellen. Geld wird in Strömen fliessen, auch in die Puffs. 2009/2010 wird investiert, geplant und gebaut. Zürich ist nicht Berlin, Prozesse dauern. Ab 2012 ist Seefeld im Kreis 4.

Viele werden von der „Aufwertung“, der Verwertung der Kultur profitieren. Wem würde man das nicht gönnen? Aber: wer kein Geld hat muss gehen. Mit den Menschen geht auch die Kultur. Jeder, der denkt als Freerider davon zehren zu können, soll wissen: Strassenkultur kann man nicht verkaufen. Kultur ist wie wir leben. Wenn wir gehen, nehmen wir sie mit.
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* Der Begriff Gentrification stammt von Engl. Gentry (Adel) und wurde in den sechziger Jahren geprägt um dem Vorgang der (meist innerstädtischen) Verdrängung bestimmter Einwohnergruppen durch wohlhabendere Zuzügler zu bezeichnen.

Montag, 12. November 2007

Hannes Grassegger - Economist

Hannes.Grassegger
Hannes Grassegger Photo: Felix Grisebach

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Twitter: @HNSGR

Hannes Grassegger - Journalist und Economist.

I'm a Reporter: I am an investigative reporter, to be more precise. My articles have been published in The New Republic, Pro Publica, The Guardian, VICE, Süddeutsche Zeitung Magazin, Das Magazin (CH), ZEIT Magazin, NZZ am Sonntag, Spiegel Online and Financial Times Germany amongst others. Translations have been published by Motherboard, Salon, Internazionale (Italy), XXI (France). I have worked from China to Ivory Coast on issues that I find interesting. Mostly digital.

My Book: My book «Das Kapital bin ich» came out in July 2014. It is an essay about how we could make a living from our personal data. You can buy it here or at your local book store. Here you can find a collection of reviews.

On Stage: People book me as a speaker, host or for panel discussions. Here you can find my upcoming events.

As an Editor: I have served as an editor and staff writer with REPORTAGEN magazine, the first and foremost literary longform magazine in the german speaking area. Before that I have edited tons of articles for Tages-Anzeiger, Die Südostschweiz and Fabrikzeitung.

Background: I graduated in economics at Humboldt Universität zu Berlin (B.A.) and University of Zürich (M.A.). I have given lectures on economics at the Universities of Cambridge (CRASSH) and Newcastle.

Awards & Scholarships: Fellow at the Wilson Center Washington D.C. (2018), Gerald Loeb Award for Beat Reporting (2018), Schweizer Medienpreis für Finanzjournalisten (2018), Wächterpreis der deutschen Tagespresse (2018), Coburger Medienpreis (2018), Helmut-Schmidt Preis (2017), Deutscher Journalistenpreis (2017), Hermann-Schulze-Delitzsch Preis (2017), Denkraum-Stipendium des Literaturhaus Zürich (2017), Zürcher Journalistenpreis (2016), Dr. Georg Schreiber Preis (2012), Kiwanis Landespreis (1999).






































"Von Schafen profitiert der Hirte."
















Key Words:

Investigativ, Ökonomie, R.Stevie Moore, Miranda July, Salton Sea, James Ferraro, Gee Vaucher, The Arm, Mischkassette, Arthur Russell, Liberalismus, Klimawandel, Bill Drummond, Grundeinkommen, Afrikan Boy, The KLF, Bio Lebensmittel, Vinyl, Erik Spiekermann, Fair Trade, Fairtrade, Textilzertifikat, Produktlabel, Dead Moon, Kraftwerk, Pierced Arrows, Staatliche Forschung über Protestbewegungen, Sustainability, Squat, Harald Welzer, Utopia, Stimme des Volkes, Leak, Enthüllung, Blowfly, Fashion aus Dakar, Vice Magazine, Kinki Magazine, Jimmy Edgar, Sachbuch Hep Verlag, Biobaumwolle, Kopenhagen Klimakonferenz, Sissikontest, Joseph Siglitz, Gary Hustwit, Helvetica, Green Jobs, BCI, Helvetas, Bitnik Kollektiv, Dan Graham und Fischli/Weiss, Zürcher Kunstszene, Lush, Wikileaks, Anonymous, 4chan, Sébastian Tellier, Zürcher Hausbesetzer, Myspace, Glaubenskrampf, Andrew Bird, DJ Mehdi, Tobias Noelles Film "René", Perla Mode, Afrikan Boy, A.C. Kupper, Esther Eppstein, Moral als Ware, Graffiti-Hippies, Raphistory, Jeffrey Lewis, Zai, Ski, Grünliberal, Martin Bäuumle, Verena Diener, Simon Jacomet, Atelier Zürich-Leimbach, Silk Flowers, Loretta, Global Value Chains, David Carson, Proces Prag, Ismael Lo, DJ Mehdi, Rocket Freudental, Ideengeschichte, The MGMT, Kuki, Multinationale Unternehmungen zwischen 1900-1960, Berlin, Fair Trade, Kraftwerk, Autobahn; DRS 3, Last.fm, Migros Kulturbüro, YouTube, Asyltourismus, Grünliberal, ETH, Äthiopien, SUDU, Jugendgewalt, Boxerei


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Donnerstag, 8. November 2007

Gott hat einen Vogel

Mit Andrew Bird und Vic Chesnutt kommen zwei Songwriter in die Rote Fabrik, die vor allem vor Musikjunkies spielen. Im Umgang mit diesem schwierigen Volk benutzen beide dieselben Tricks: Melancholie, um die Seele anzufixen, und Ironie, um die Gefühle abzuknallen.

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Von Hannes Grassegger
Andrew Bird ist wie ein Klassenbester, der auch noch cool ist. Der Typ macht alles richtig, was Kritiker sonst immer an Musikern bemängeln: Erstmal spielt er Folkrock. Manche nennen ihn Singer-Songwriter, er komponiert also alles selber. Das ist der erste Schlüssel zur Gunst der meisten Musikfreaks. Weiterhin hat Bird Musik studiert; seine Texte sind voller Fremdwörter und vermitteln den Anschein tiefsinniger Philosophie; er zupft (!) neben der Geige auch die Gitarre, singt dazu und pfeift ganz wie ein Vögelchen. Dann ersinnt er komplexe Songstrukturen, verfällt niemals simpler Refrainschematik und verzichtet dennoch nicht auf eingängige Hooklines. Live ist der 34-jährige Beau zeitgemäss und experimentell, loopt sich mit Samplerschnickschnack, nimmt rasch das nächste Instrument zur Hand, spielt flott was drüber. Oft ist er allein auf der Bühne, mit Händen und Füssen Klänge produzierend, singend, sampelnd, pfeifend, fidelnd - eine Menschmaschine mit Biotouch.


Doch im Gegensatz zu all den schlaffen Folkbrüdern passiert bei Bird sogar rhythmisch einiges. Hin und wieder klingt Zydeco durch, da fängt derKritiker an, sich wohl zu fühlen, mitzuswingen fast. Aber tanzbar wirds dann doch nicht. Wär ja auch zu oberflächlich. Birds Sound hat diese gewisse Melancholie, ohne die man nicht ernst genommen wird im Business. Aber (und damit sackt er die letzten hartnäckigen Widerständler ein): Er hat auch Ironie. Es ist doppeldeutig stilvoll, wie sich der Amerikaner auf Youtube mit seiner Geige in Paris zeigt, das Klischee beim Schopfe packend, am Montmartre musizierend. Er ist ein Dandy, ein bisschen posh, beinahe britisch. Ach, und aus dem Chicagoer Untergrund kommt Bird auch noch, viele seiner zwölf Alben sind vergriffen. Es hat etwas Edles, wenn man abends unter Kollegen eine der seltenen Scheiben auspackt.

Andrew Bird ist ein Musikmonster. Ganz sicher nicht Teil einer Jugendbewegung, sondern in den luftigen Höhen eines Nick Drake zu finden. Und wenn es nur einen Gott geben sollte, so wird er sich auf Reisen sicher dann und wann von Bird vertreten lassen.

Jetzt aber ist der Vogel ausgeflogen und gibt sein einziges Konzert im deutschsprachigen Raum. Es wird sicher lustig zuzusehen, wie all die Plattensammler, Plattenhändler, Skeptiker und Kenner lauschen, während Bird mit seinem Perkussionisten und Multiinstrumentalisten Martin Luther King Chavez Dosh auf der Bühne (hoffentlich) wie ein ganzes Orchester klingt.

Zürich, Rote Fabrik, Seestr. 395

Mi 14.11., 21 Uhr

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